Irisches Tagebuch 2011

In der Parallelwelt

 

Sonntag, 5. Juni 2011

Wir wandern den Weg zur Renvyle Pier hinunter. An Lá Úr, ein neuer Tag und ein neuer Urlaub, frisch und unverbraucht. Ein neuer Urlaub, und doch hat er Geschichte, philosophiert mein Mädchen und lässt andere Urlaube der letzten 25 Jahre Revue passieren: Santorin, Bretagne, Lissabon, Norwegens Küste, Seychellen, Edinburgh, um nur einige zu nennen. Blitzlichtaufnahmen aus unserer Geschichte ohne in diese hineinzuwirken, eine Ausdehnung in unserer Zeit zu bekommen.

Doch mit Irland ist das anders. Da war die Zeit mit Gisela, die Zeit mit Frank & Kevin, die Zeit mit den Lübeckern auf ihrem Hügel über der Renvyle Bay, die Zeit mit Peter Veldon und seinem handtuchschmalen Laden, die Zeit mit Johnnie, den wir dreimal pro Woche nach Mitternacht von Clifden nach Renvyle fuhren, die Zeit mit Charlie O’Malley, die Zeit mit Musik im Renvyle Inn und die Zeit ohne Musik im Renvyle Inn. Und alle diese Zeiten hatten Schnittmengen und wirkten aufeinander ein.

So blieben die Irlandaufenthalte keine Momentaufnahmen, bekamen eine Geschichte und wurden zu einem Stück eigene Geschichte in einer Parallelwelt, in die wir jedes Jahr für ein paar Wochen eintauchen. In der wir nun eine Zeit erleben, in der wir immer mehr Gestalten aus den früheren Zeiten auf den Friedhöfen von Mullaghgloss und Renvyle Head besuchen. Doch nicht nur, bleibt zu hoffen.

*  *  *

Gestern Mittag gegen 11.15 Uhr landeten wir in Dublin. Wieder hatten wir unverschämtes Glück, denn gerade einmal zwei Wochen ist es her, dass der isländische Vulkan Eyjafjallajökull einen Hustanfall bekam, seine Asche bis nach Nordeuropa spuckte und tagelang den Flugverkehr nach Irland blockierte. Kaum hat er sich beruhigt, da wollen ab kommenden Dienstag die Aer-Lingus-Piloten in Dublin und Cork streiken, und genau in den Zeitraum dazwischen hat uns die Vorsehung im Dezember den Irlandflug buchen lassen.

Die Landung erfolgte am neuen Terminal 2, geplant und in Auftrag geben zur Zeit des keltischen Tigers, als eine dramatische Steigerung des Flugverkehrs erwartet wurde, und fertiggestellt, wo dieser zu einem zerzausten kleinen Kätzchen geworden ist und die Passagierzahlen im Sinken begriffen sind. Kein Gedränge mehr, wie in den rare old times, alles schön, weitläufig, neu und sauber, doch damit die Sache nicht zu langweilig wird, gehen beim Durchzug der Karawane zu den Baggage-Reclaim-Bändern gleich an mehreren Türen die Alarmanlagen los. Das Land sei gewarnt, die Touristen kommen.

*  *  *

Und zwei dieser Touristen strolchen nun wieder durch Connemara, wenn sie nicht in oder vor ihrem Cottage hocken. Zur Zeit sind sie alle ausgebucht, doch nur übers Holiday Weekend, erzählte uns Anne Jack, die uns vor einer halben Stunde auf der Straße nach Tully entgegenkam und anhielt. Da brachten wir dann gleich den bei unserem Einzug erkannten Hauptmangel an der Einrichtung vor, den vermissten zweiten armchair, dringend benötigt um gemeinsam vorm Cottage zu sitzen und das Dorfleben beobachten zu können. “No problem”, meinte Anne, wenn morgen Vormittag alle anderen Mieter abreisen, sollten wir durch die dann unbewohnten Cottages streifen und uns holen, was wir gerne hätten. Cottageverwaltung in the Hills of Connemara.

Renvyle-Halbinsel, Irland, Connemara, © 2011 Juergen KullmannWir sind an der Pier. Es ist Ebbe, und eine kalte Brise weht den Duft von vermoderndem Seetang zu uns herauf. Das Vorhaben, nach einem Sitzplatz zu suchen, wird aufgegeben, und jenseits des Bachs, der hier ins Meer fließt, geht es zurück. Das Rosa Haus braucht neue Farbe, liegt aber immer noch traumhaft. Auf dem asphaltierten Feldweg kommt uns eine Autokolonne entgegen. Die Kirche ist aus.

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Am Abend gibt es Musik bei Patrick Sammon im Angler’s Rest. Übermäßig voll ist es nicht, denn in Letterfrack begeht man den letzten Tag der Bogweek. Hinter der Theke steht Milch-und-Honig. Sieben Kinder hat sie mittlerweile, ist in der Hüfte etwas breiter als vor fünfzehn Jahren, doch die Haut immer noch ‘like milk and honey’.

Frank ist an diesem Holiday Weekend mit Rose auf Verwandtenbesuch im Norden. So macht Kieran heute mit Michael George Musik — und statt zu singen schreit dieser seine Songs wie ehedem in den Raum, der festen Überzeugung, das gehöre sich so für einen irischen Sänger. Auch ‘Onkel Jochen’ mit seinen Segelohren ist da, seit zwanzig Jahren nicht einen Tag gealtert. Der Mann, der nicht aus Friedrichstadt kam *.

Patrick Sammon, der Landlord, taucht auf betrachtet stolz seine Tochter hinter der Theke und erzählt von seinen sieben Enkeln. Einer von ihnen wurde kürzlich mit elf Jahren All-Ireland-Champion seiner Altersklasse im Judo. “Just a moment, I’ll show you some photos.” Er geht fort und kommt mit einem großen Umschlag zurück. Wir bewundern pflichtschuldigst den All-Ireland-Champion, dann zieht er uns erwartungsvoll anblickend von hinten ein 20 × 30 cm großes Foto hervor: Patrick Sammon in seiner Bar neben einem stark angeheitert aus der Wäsche schauenden ... Ob wir wüssten, wer das sei? Na klar doch, Brian Cowen, genannt Biffo, the Big Ignorant Fellow From Offaly, bis vor vier Monaten Häuptling dieses Landes.

* Siehe die gleichnamige Erzählung von Joachim Wende in: Mysteriöse und unheimliche Geschichten aus Nordfriesland.

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Montag, 6. Juni 2011

Hildegard an Gisela – Erster Brief

Liebe Gisela — Viele Grüße aus Tully Cross von zwei unverbesserlichen Irlandreisenden. Nieselregen und Temperaturen um 14 °C machen nicht nur dem chronischen Wiederholungstäter klar, wo er gelandet ist – am feuchten Ende des Regenbogens! Und nach spätestens zwei Tagen wird letzterem auch klar, dass vieles noch wie vor zwanzig Jahren ist: die Mädels unmöglich angezogen, und nicht wenige der Pubnasen von damals stehen immer noch an der Theke. Nur dass sie jetzt zum Rauchen nach draußen gehen. Am Cottage hat sich wenig getan, das Guinness schmeckt köstlich, Kieran singt göttlich ‘The Lakes of Pontschartrain’ und Michael George schreit seine Songs wie ehedem ins Publikum. Dabei klingt seine Stimme ganz angenehm, wenn er normal redet.

Tschüüs und bis bald
Hildegard”

Der Chronist fährt fort

Eine Regenfront hat Irland erreicht, auch wenn uns zwischen zwei Schauern ein paar ‘sunny spells’ beglücken. “Visit the local craft shops”, empfiehlt für solche Tage der Reiseführer, den wir vor fünfzehn Jahren mit auf die Insel brachten. Ein sonniger Charakter reicht, und “Life is for living”, wie dem Horoskop meines Mädchens in der heutigen Ausgabe des Irish Independent zu entnehmen ist:

Waage, 24. September bis 23. Oktober: Sei nett zu dir, mache einmal etwas anderes und gönne dir eine Pause. Ordne deine Prioritäten neu und gib persönlichen Angelegenheiten mehr Raum. Zeige deinen wahren, sonnigen Charakter, von dem du weißt, dass er in dir steckt Es gibt keinen Grund, sich von Verpflichtungen einsperren zu lassen. Das Leben ist zum Leben da! Lass all den Unsinn hinter dir, schiebe alles Negative in die Vergangenheit und steuere davon weg.

Letterfrack, Irland, Connemara, © 2011 Juergen KullmannGut, dann steuern wir mal los, wo ist hier der nächste local craftshop? Der Most Possible Shop hinter Letterfrack hat meinem Mädchen nichts zu bieten und schont die Reisekasse. Rezession oder nicht, das Angebot ist von Jahr zu Jahr weniger ‘extraordinary’. Auch von dem abgewrackten Kahn am Anleger gegenüber, im Internet ein bliebtes Fotomotiv, ist nicht viel geblieben. Wir kehren um und versuchen es im Craftshop von Kylemore Abbey. Für sich findet mien Deern auch dort nichts, doch zumindest einen Pullover für mich. Falls es noch kälter wird.

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Am Nachmittag sind die Bewohner der anderen Cottages abgereist. Wir machen Beute in No. 3, entwenden einen Armchair, tauschen zwei Stühle aus und lassen bei der Gelegenheit auch gleich noch ein Brotmesser mitgehen. Ein klein wenig haben wir schon ein schlechtes Gewissen, trotz des von Anne Jack ausgestellten Kaperbriefs. Poor No. 3, alles Schöne wandert in No. 1, und No. 3 muss sich mit dem begnügen, was übrig bleibt. Wie Hägar der Schreckliche schleichen wir uns mit der Beute von dannen. Und um die Bevorzugung von No. 1 auf die Spitze zu treiben, putzt mien Deern auch noch seine Fenster und wäscht die Gardinen, derweil ich die Rose links und den Strauch rechts der Tür beschneide.

Später am Tag wird Hägar der Schreckliche ein weiteres Mal aktiv und klemmt einem unverschämten Local, der mit seinem Langschiff vom Typ Audi A6 auf der Zufahrt vor seiner Cottagetür vor Anker gegangen ist, eine letzte Warnung THIS IS NO CAR PARK hinter die Windschutzscheibe. Nach der drei Stunden später erfolgten überstürzten Flucht des Langschiffeigner kramt Hägar ein Tau, das spätere Generationen für eine Wäscheleine halten werden, hervor, beklebt es mit Fähnchen aus rotem Isolierband (erstaunlich, was sich im Laufe der Jahre in unserer Tasche auf dem Dachboden alles angesammelt hat) und spannt es zur Markierung seines Herrschaftsgebiets quer über die Zufahrt.

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Nach diesen Heldentaten pilgern wir zum Friedhof von Mullaghgloss. Ob wir Johnnie auch noch zum seinem Hundertsten in neun Jahren besuchen werden? Anschließend schauen wir bei seinem Bruder Paddy vorbei, der, wie dem Grabstein zu entnehmen ist, mittlerweile mit seiner Frau vereint ist, und statten Brians Marian einen Besuch ab, die nun auch einen Grabstein hat. Erstmals seit vielen Jahren hat der Friedhof in den letzten zwölf Monaten keine uns bekannten neuen Bewohner bekommen. “Und wenn du jetzt nicht in das hinter dir ausgehobene Grab stolperst”, meint mien Deern, “bleibt es auch dabei.”

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Dienstag, 7. Juni 2011

Der Juni-Bankholiday ist abgehakt, alle Läden sind geöffnet und wir fahren nach Clifden. Sehr viel hat sich an der Strecke in den letzten zwanzig Jahren nicht getan. Zwar wurde die Straße einige Mal neu geteert, doch nähert sich die Schlaglochdichte wieder der des Jahres 1992. Hier und da ist sie etwas breiter geworden und einige Kehren wurden entschärft, doch man muss schon genau hinsehen, um einen Unterschied zum Bild in der Erinnerung zu finden. Abgesehen von den Fahrbahnmarkierungen, die man damals in der Grafschaft Galway noch nicht kannte. Kam man von Mayo herunter, hörte der Mittelstreifen auf der Fahrbahn kurz vor Leenaun an der Grenze zu Galway einfach auf.

Diesen Mittelstreifen gibt es auf der N 59 nun durchgängig bis Clifden, doch mehr Autos als damals kommen uns auch nicht entgegen. Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir in den ersten drei Tagen in Irland nicht einen einzigen Reisebus gesehen haben. Auch kostenfreie Parkplätze am einstigen Clifdener Bahnhof gibt es genug; noch vor zwei Jahren wäre die Suche dort zur Mittagszeit aussichtslos gewesen.

Die Liste unserer Einkäufe: Eine CD Éist Aris aus dem Celtic Shop an der Market Street (€ 14,99), Lebensmittel im SuperValu (€ 10), Food & Wine bei Lidl (€ 33). Dem stehen die folgenden in Augenschein genommenen, dann aber doch nicht gekauften Artikel gegenüber: Graue Jacke bei Millar (€ 220), Bluse bei Hehir (€ 79), petrolfarbene Wolljacke bei Stanley’s (€ 300). Rechnen wir jetzt die Nicht-Einkäufe gegen die Einkäufe auf …

Doch Rechnen ist nicht angesagt, wir stärken uns im Derryclare Restaurant. Es ist deutlich mehr los als bei unserem letzten Besuch, vielleicht wegen der neuen ‘Specials’. Gefühlt ist es die erste Überarbeitung der Speisekarte, seit Noahs Enkelin Cessair vierzig Tage vor der Sintflut in Irland landete. Und es schmeckt!

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Letterfrack, Irland, Connemara, © 2011 Juergen KullmannVor dem Abendessen noch einmal ans Meer. Wir fahren zum Renvylestrand hinunter. Das Wasser hat sich weit zurückgezogen. Wellen brechen sich an Gesteinsformationen im flachen Wasser, und weiße Schaumkronen rollen den Strand herauf, auf dem das Meer bei seinem Rückzug sanfte, flache Hügel hinterlassen hatte. Der Himmel wird dunkler, der Wind frischt auf. Beginnt es etwa zu regnen? Es sind nur ein paar Tropfen, doch die kalte Brise lässt uns frösteln. “Gehen wir zum Auto zurück”, meint mein Mädchen, “ehe wir uns noch eine Erkältung einfangen.”

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Am Abend im Paddy Coyne’s. Der 2010 auf das Niveau von 2008 zurückgefallene Preis für das Pint Guinness verharrt dort immer noch. Gerard erzählt, dass er dabei ist, nebenan im hinteren Teil von seines Bruders Laden eine Küche zu installieren, um demnächst Barfood anzubieten. Die Trennung zwischen Pub und Laden war erst nach dem Tod des seligen Paddy Coyne entstanden, als das Erbe unter den Brüdern aufgeteilt wurde. Nun hat Brian, der sich als Kaufmann noch nie wohlgefühlt hatte, den Laden auf einen Kiosk für Zeitungen, Getränke und Briketts reduziert, so dass im hinteren Teil Platz für seines Bruders Pubküche wurde. Wenn alles klappt, meint Gerard, können wir bei der Eröffnung noch mit dabei sein.

Nach ein paar Missverständnissen – klingt film, von mir gesprochen, wirklich wie funeral ? – verrät er, dass die im vergangenen Jahr abgeschlossenen Filmaufnahmen im September mit einer neuen Staffel von ‘Single Handed’ weitergehen und sich der Pub dann wieder in Malone’s B&B verwandeln wird. Wir hatten uns schon gefragt, warum der von den Filmleuten im letzten Sommer aufgebrachte schmuddelige Anstrich immer noch auf der einst weißen Fassade ist.

Unser Guinness ist ausgetrunken, mein Mädchen hat fünf weitere Reihen an meinen Pullovers gestrickt und ich einen weiteren Absatz in dieses Heft geschrieben, als eine Beerdigungsgesellschaft durch die Tür kommt, um den Einzug einer Seele in den Himmel zu begießen. Daher wohl die obige Verwechslung. Uns wird es zu laut, und wir wandern über die Straße ins Cottage zurück.

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Mittwoch, 8. Juni 2011

A good day for selling briquets”, grinst Brian, und so komme ich mit Briketts, meiner Zeitung und klatschnassen Haaren über die Straße ins Cottage zurück. Und mit Halsschmerzen, doch die hatten sich schon beim Zähneputzen angekündigt.

Was soll’s, wir fahren nach Westport, da sitzt man erst einmal eine Stunde trocken im Auto. Bei unserer ersten Irlandreise hatten wir gleichfalls in einem Nissan Micra, und nur am Design des Fahrzeugs ist zu erkennen, dass seither neunzehn Jahre ins Land gegangen sind. Die Straßen- und Landschaftsfotos von damals könnten auch heute aufgenommen worden sein. Der keltische Tiger hat in dieser Ecke Irlands keine Spuren hinterlassen.

Selbst der Autoverkehr in der Stadt an der Clew Bay hat sich auf das damalige Niveau zurückentwickelt, auch wenn es den großen Parkplatz hinter dem Town Centre seinerzeit ebenso wenig gab wie das ‘Whyte House’ an seiner Flanke. Irelands smallest Department Store, Irland kleinstes Modekaufhaus nennt sich die Boutique, in der mein Mädchen – wie sie nach einem Check des Sortiments feststellt – spielend einen vierstelligen Eurobetrag ausgeben könnte.

Da sie ihn nicht hat, wandern wir über den Zeitstrahl in die Vergangenheit unserer Parallelwelt zurück, stärken uns in einem Café, in dem wir seit unserem ersten Irlandbesuch nicht mehr saßen, mit Lemon Cheese Cake und Tee und erinnern uns daran, wie alles früher einmal war. Wobei sich uns auf dem Weg dorthin ein Fleece Shirt angeschlossen hatte, das nun in einem Einkaufsbeutel unter dem Tischchen mit den Cheese Cakes steht, darauf hoffend, nicht in dieser Vergangenheit zurückgelassen zu werden. Und so ganz aus der Welt ist das Whyte House auch noch nicht, denn in zwei Wochen soll dort ein Big Sale beginnen.

Während das Wetter zwischen sunny spells und leichtem Nieselregen wechselt, arbeiten wir uns weiter durch die Westporter Läden, wobei ich in den Phasen der sunny spells auch schon einmal vor der Eingangstür stehen bleibe und das Straßentreiben beobachte oder bei einsetzendem Regen in eine Buchhandlung flüchte, von denen das Städtchen gleich zwei aufzuweisen hat. Am Ende der Runde befinden sich im Einkaufsbeutel neben dem Fleece Shirt ein Hemd und eine Hose aus der Damenabteilung von O’Connors sowie ein Küchensieb und ein Kohlkopf.

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Donnerstag, 9. Juni 2011

Zu den Halsschmerzen – ich definiere sie als langsam zurückgehend – beginnt die Nase zu tropfen. Da es draußen gerade nicht tropft und so aussieht, als würde das eine Weile so bleiben, machen wir den ‘kleinen Bogwalk’

O‘Toole Store, Tully Cross, © 2011 Juergen Kullmann
Western Auto Point, Tully Cross, © 2011 Juergen Kullmann
Tully Cross, © 2011 Juergen Kullmann

Der O’Toole Store am Ortsausgang scheint für immer geschlossen zu sein, womit ein weiteres Stück Geschichte in unserer Parallelwelt abgeschlossen ist. Von dem einen Paar Schuhbändern, die wir in fast zwanzig Jahren dort gekauft haben, konnte Mrs. O’Toole wohl nicht leben. Doch den Western Auto Point – zu seinen Kunden zählten wir immerhin zweimal – gibt es immer noch, und was aus dem Ghost Estate* nebenan wird, weiß der Leprechaun. Gegenüber wacht ein Hahn über seine Hennen.

Wir laufen immer hübsch bergab bis zur Brücke über den Dawros River. Am 21. September 1892 wurde sie zum Schauplatz eines tragischen Ereignisses, als Geraldine Gilbert, Tochter von Mitchell Henry, dem beliebten und unglücklichen Erbauer von Schloss Kylemore, aus den USA kommend während eines Urlaubsaufenthalts beim Straucheln ihres Pferdes aus der Kutsche über die Brücke geschleudert und Stunden später tot im Bachbett gefunden wurde.

Wir gehen nicht über die Brücke, sondern biegen rechts ab Richtung Derryinver Quay. Der kleine Hafen zeigt sich unaufgeräumt und schmuddelig wie ehedem mit dem Flair eines Schiffsfriedhofs. Der Wind ist zu kalt, um abseits des Gerümpels nach einem netten Plätzchen mit Blick über den Ballynakill Harbour Ausschau zu halten, und so machen wir uns auf den Weg übers Moor nach Tully Cross. Wir begegnen niemandem. An seinem Ausgang ist der einst in den Hausmappen der Cottages empfohlene Wanderweg so zugewachsen, dass man seinen Startpunkt, wenn man von der anderen Seite kommt, kaum findet. Doch Hausmappen mit Tipps gibt es bei Renvyle Thatched Cottages schon lange nicht mehr.

*  *  *

Am Nachmittag kaufen wir beim Fleischer in Letterfrack Gehacktes und nebenan bei Veldon’s ungefärbte, nicht mit Benzoesäure verseuchte schwarze Kalamati-Oliven, die der SuperValu in Clifden nicht führt. Mit den Resten des Steaks von gestern gibt das eine 1A-Nudelsauce für unser Dinner am Abend.

* Siedlungen, mit deren Bau vor dem Platzen der Immobilienblase begonnen wurde und die nie fertiggestellt wurden.

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Freitag, 10. Juni 2011

ein Kopf, der Hals und vor allem die Nase fühlen sich immer noch nicht richtig wohl, doch etwas Wind um die letztere wird ihr gut tun. Wir machen uns auf nach Leenaun.

Mullaghgloss – Lettergesh West – Lettergesh East – Glassilaun. Dann kommt Salrock bzw. Sáil Roc, der Fersenabdruck des Heiligen Roc. Mag sein, dass er ihn hinterlassen hat, als der Teufel der Sage nach versuchte, ihn an Ketten über den Berg zu schleifen. Seine Kirche links am Hang, kurz bevor der Loch Muc (Schweinesee) in den Loch Fidh mündet, wurde vor drei Jahren profanisiert und hat jetzt einen Käufer gefunden, der sie zu Wohnzwecken umbaut. Strahlend weiß leuchtet das einst triste, graue Gemäuer. Vielleicht ist der Umbau gar nicht so aufwendig, da das gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts errichtete Gebäude ursprünglich eine Schule war und erst 1970 zur ‘neuen Kirche’ von Salrock umgewandelt worden war.

Hinter Loch Fidh beginnt die hügelige Moorlandschaft vor der Kulisse der Twelve Bens. Sie wirkt eher trocken-grau als feucht-grün. Dabei war es nach einem schönen April im Mai so nass gewesen, dass kaum jemand hatte Torf stechen können und in manchen Haushalten bereits Brennstoffmangel herrscht.

Wir stromern durch Leenaun, da es kalt und windig ist, mehr indoor als outdoor, sei es im Souvenierladen des Sheep & Wool Heritage Centre oder im kleinen Craftshop an der Ecke zur Brücke. Gekauft wird nichts. Dann geht es zurück nach Letterfrack in den Bard’s Den, wo das Chicken Kiev in Knoblauchbutter noch genauso exzellent wir im vergangenen Jahr ist. Auch am Preis hat sich nichts geändert.

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Renvyle Peninsula, Irland, Connemara, © 2011 Juergen KullmannDie Sonne ist hinter dem Renvyle House versunken, doch noch leuchten der Himmel und das Meer. Wir stellen das Auto am Strand ab und schlendern in die Bar, wo Frank und Kieran heute Abend für die Musik zuständig sind. Ihr Schwager Tim O’Sullivan ist der Chefkoch des Hauses.

Eine Hochzeitsgesellschaft trudelt ein, morgen ist die Trauung. Etwa ab 23 Uhr übernehmen die Gäste das Kommando, zunächst ihre Vorhut aus vier bis fünf Kindern im Alter zwischen drei und zwölf Jahren. Nach einer Tanzeinlage der Youngster bittet Emmy (ca. 12 Jahre) Frank, sein Bier vom Klavier hinter sich zu nehmen und es von der Wand abzurücken, lässt sich anschließend das Mikrophon geben und teilt dem werten Publikum mit, dass Jane (ca. 10 Jahre) nun Beethovens Für Elise spielen wird. Und Jane legt los.

Die letzten Töne für Elise sind verklungen, doch Emmy gibt das Zepter bzw. Mikrophon nicht aus der Hand und erklärt, dass sie etwas zu singen gedenkt. Es folgt ein zig Strophen langes Lied, von dem wir wenig verstehen, außer dass ein Angle darin besungen wird. Als Zugabe folgt unter stürmischem Beifall der Pub-Klassiker Galway Girl. Weniger mutig zeigt sich die männliche junge Kavallerie. Eher widerwillig lässt sich ein etwa 10-Jähriger von den Mädels ans Mikrophon zerren, wo er nach einigem Sträuben, Schlucken und Stocken von einem aus dem Nichts auftauchenden Blatt ein Lied zum Besten gibt.

Nachdem die Vorhut die Hemmschwelle durchbrochen hat, rücken die Erwachsenen der Hochzeitsgesellschaft nach und weiten die Bresche, bis ein Freddy aus Lichtenstein round the clock zu rocken beginnt und in einer Yellow Submarine die Schlacht gewinnt.

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Weitere Reiseberichte


Reiseberichte Irland: Connemara & Burren 2011
© 2012 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 27.11.2012