Irisches Tagebuch 2007

Forty Shades of ... ?

 

Sonnabend, 16. Juni 2007

Ein ‘Walk of the Week’, der nicht im Clifdener Touristenmagazin What’s On steht. Im Besitz eines Bonusheftes, das uns 50 % Rabatt auf den Eintrittspreis verspricht, wollen wir Dan O’Haras Heritage Farm* besichtigen, kommen jedoch nach einem Bummel durch den Craftshop und einen Blick auf das Anwesen über uns am Berghang zu dem Schluss, dass sich seit unserem ersten Besuch vor fast fünfzehn Jahren nichts geändert hat. Außer, dass damals die Besichtigung kostenlos war. Also zahlen auch dieses Mal nichts und begeben uns nach Clifden.

Wir sind unten an der Clifden Bay. Slí Sláinte, Gesundheitsweg, wird die am Hafen beginnende Beach Road genannt, ein Hinweisschild mit zwei stilisierten Herzen und darunter eine Warnung an die Autofahrer:

Drive slowly, walking people!

Gar so viele Autofahrer begegnen uns nicht, statt dessen ein lokaler Gesundheits-Walker, mit dem sich mein Mädchen in ein Gespräch über das Wetter einlässt. Man kommt zu der Erkenntnis, dass es nach einigen trüben Tagen heute wieder ‘so richtig schön’ ist.

Als Gott die Zeit erschuf, gab er den Iren genug davon. Vor 15 Jahren wurde am Hafen ein Schild aufgestellt, nach dem es beim Bootshaus am Ende der Beach Road einen Coffee Shop gibt. Fünfzehn irische Sommer lang hielten wir vergeblich danach Ausschau. Nun hocke ich auf einer Mauer an der Wasserkante, links von mir der Schuppen mit dem Rettungsboot, derweil die Liebste hinter meinem Rücken das Bootshaus inspiziert. Sie kommt zurück:

“DA GIBT ES EINEN COFFEE SHOP!

Im ersten Stock, mit einer Terrasse am Hang! Und mit einem sehr netten jungen Mann! Er ist noch beim Einrichten. Ein ‘Menu’ gibt es noch nicht, sagt er, aber eine Apple Tart mit Cream kann er uns machen!”

Zwei Minuten später sitzen wir zwischen Brettern und Kisten auf der Terrasse, während der ‘sehr nette junge Mann’ an einem Brett für die Inneneinrichtung sägt, es zum Anpassen immer wieder ins Haus trägt und bei der Gelegenheit im Abstand von jeweils zehn Minuten erst zwei leere Tassen, dann den warmen Apfelstrudel und schließlich den heißen Tee herausbringt. Alles zusammen für acht Euro.

*  *  *

Am Bootshaus endet die Beach Road, doch vom Anleger aus zieht sich ein Fußpfad den Hang hoch und folgt der Clifden Bay. Einige Gatter und Zäune sind zu überwinden, dann stoßen wir hinter einer Biegung auf eine kleine Bucht. Verwitterte Stufen führen zum Wasser hinunter. Hier scheint es in alten Zeiten einen weiteren Bootsanleger gegeben zu haben, womöglich für den Gründer der Stadt John d’Arcy, der nicht weit von hier auf Clifden Castle residierte.

“D’Arcy ist todt und sein Schloß ist in fremden Händen. Seine Besitzungen sind zersplittert und verkauft, und sein Sohn Hyacinth ist Pfarrer in Clifden und wohnt in einem kleinen Hause, welchem die Bewohner der Stadt nicht ohne Wehmuth ehrfürchtig vorbeigehn”,

Irland, Clifden Castle 1997, © Juergen Kullmannschrieb 1860 der deutsche Reisende Julius Rodenberg nur ein halbes Jahrhundert nach der Stadtgründung. Nun ist auch das Schloss, dem wir uns entlang eines Zauns nähern, nur noch eine pittoreske Ruine. Kühe beäugen uns neugierig – ob wohl auch ein Bulle auf der Weide ist? Durch eine Lücke im Stacheldraht begeben wir uns zur anderen Seite, auf der weder männliches noch weibliches Rindvieh weidet.

Dann stehen wir vor dem, was nach 150 Jahren von Clifden Castle übriggeblieben ist. Ein paar Fotos, um den Zustand im Jahr 2007 zu dokumentieren, und weiter geht es über die alte Zufahrt zur Sky Road, vorbei an fünf Standing Stones, von denen aber nur einer echt ist. Am Ende führt der Weg durch einen restaurierten Torbogen, daneben ein Haus, dessen Besitzer mitunter so tut, als gehöre ihm das gesamte Anwesen. Nur allzu gerne würde er von den Besuchern der Ruine ein Eintrittsgeld erheben.

Über die Sky Road wandern wir nach Clifden zurück, nicht ohne dem Monument Hill mit dem nie vollendeten Denkmal des Stadtgründers einen Besuch abzustatten. Eine herrliche Aussicht hat man hier oben. Unterhalb des Denkmals weidet eine weiße Stute mit einem dunklen, noch sehr jungen Fohlen, das uns eine Weile lang neugierig anblinzelt, ehe es aufsteht und zu seiner Mutter geht. Unheimlich viele Fohlen haben wir in den letzten zwei Wochen gesehen. Es ist halt die Zeit, zu der die Pferde in Irland lammen, meint ein Schaf.

* Siehe auch 20. Juni 1997.

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Sonntag, 17. Juni 2007

Ich weiß nicht, warum es uns immer an einem Sonntag nach Roundstone führt. Auch in diesem Jahr ist das so. In der Früh ist der Himmel noch blau, dann ziehen Wolken auf, und jetzt dominieren die Grautöne am Firmament.

Wir parken am Ortsrand vor einem Torbogen, durch den es einst zu einer Franziskaner-Abtei ging. Zusammen mit einem Glockenturm hat er sich ins 21. Jahrhundert gerettet, doch sonst erinnert nichts mehr an das 1835 gegründete Kloster. Der letzte Mönch hatte sich 1974 nach Clifden in den Ruhestand zurückgezogen, lese ich in einem Reiseführer. In den Ruhestand vom Beten? Heute findet man auf dem Gelände die Werkstatt und den Souvenirladen von Malachy, dem Bodhrán-Bauer, eine Töpferei und den Schmuckladen The House of Mag Aoíde.

Michael Killeen Park nennt man das Areal. Michael Killeen war in den 1980-er Jahren Vorsitzender der Industrial Development Association for Ireland und hatte den Gewerbepark auf dem ehemaligen Klostergelände initiiert. Nach seinem tragischen Tod als noch junger Familienvater wurde der Park nach ihm benannt. Seine Familie besitzt dort bis heute ein Haus.

CD-CoverAuf keltische Kunst der frühchristlichen Klosterperiode hat sich das House of Mag Aoíde verlegt. Síla Mag Aoíde, eine Kunstdesignerin vom National College of Arts and Design in Dublin, hat sich nach Wanderjahren mit Workshops in aller Welt hier an ihrem Geburtsort niedergelassen. Heute spielt vor dem Laden Lynn Saoirse (Foto links), eine ‘award-winning’ Harfenistin. Vor einigen Jahren hatte sie mit der viel zu früh verstorbenen Barbara Callan ein wunderschönes Album mit Musik aus Connemara aufgenommen: On the Bright Road. Ich setzte mich auf eine Bank und lausche, während sich mein Mädchen im Laden umschaut. Doch schon bald kommt sie wieder heraus – ohne etwas gekauft, geschweige denn zum Kauf in Erwägung gezogen zu haben. Die Hüterin des Ladens sei ein nerviges Weib, erfahre ich, das ihre einzige Angestellte (50+) mit ‘my sweetheart tue dies’ und ‘my sweetheart tue jenes’ derart traktiert, dass sich das arme sweetheart nur noch im Kreis dreht. Worauf die einzige potenzielle Kundin den Laden genervt verließ.

*  *  *

Zwei, drei oder auch vier Stunden später sitzen wir auf einer Steinmauer an der Gurteen Bay. Links von uns hängt ein mittlerweile fast schwarzer Himmel über einem hügeligen, etwas steinigen Grasland, auf dem zwei Häuser von der Sonne angeblinzelt werden. Im Westen ist der Himmel blau, seychellengrün leuchtet das Wasser in der Bucht unter uns. Woher diese Farbe wohl kommt? Korallen dürfte es hier kaum geben, vielleicht vom Seetang?

Ein Mann stürzt sich ins kalte Nass. Er scheint ein geübter Schwimmer zu sein, krault ein paar Bahnen parallel zum Sandstrand, auf dem ein Schild vor der Strömung warnt. Ein Curragh mit Außenborder hält auf die Küste zu und verschwindet hinter einer Landzunge. Wir verschwinden auch und fahren heim.

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Montag, 18. Juni 2007

Not arrived yet”, Brian schüttelt bedauernd den Kopf. Es ist schon fast elf, und die Zeitung ist immer noch nicht da. Wie es aussieht, war der Fahrer des Kurierdienstes gestern Nacht zu lange im Pub. Geht am Sonntag die Welt unter, so erfährt es Tully Cross erst am Montagnachmittag. Keine Zeitung zum Frühstück, das kürzt die Sache ab und wir fahren nach Leenaun.

Unterhalb des Teufels Mutter, als welche der Berg auf den Landkarten eingetragen ist, liegt nahe der Grenze zwischen den Grafschaften Galway und Mayo das Gleann na nGeimhleach oder Tal der Gefangenen. Wer hier wann von wem gefangen gehalten wurde, weiß heute keiner mehr.

Ein Faltblatt der Tourismusbehörde empfiehlt, das Auto in Leenaun zu parken und sich auf Schusters Rappen zum Eingang des Talkessels aufzumachen. Hätte es der Autor des Faltblattes versucht, so wäre ihm klar geworden, dass der Wanderer auf der schmalen und kurvigen N 59 mit höherer Wahrscheinlichkeit von einem Auto ins Tal des Todes befördert wird, als dass er über sie ins Tal der Gefangenen gelangt.

Coyne‘s Pub Leenaun, © 2008 Juergen KullmannAlso fahren wir weiter zu Coyne’s Pub am Ende des Killary Harbour, dem letzten Pub Connemaras. Kommt man aus Mayo, so präsentiert er sich als der erste. Vielleicht geht die Grenze auch durch den Schankraum. Vor dem Lokal befindet sich ein großer Parkplatz, auf dem wir unser Gefährt neben einem Rolls-Royce-Oldtimer abstellen, dann geht es ein Stück die Straße zurück. Tír na nÓg B&B, verheißt ein Schild, das nach hundert Metern in den eiszeitlichen Talkessel weist. Ob einem hier neben ewiger Gefangenschaft auch ewige Jugend erwartet? Hatte nicht schon Oisín das Land der ewigen Jugend am Ende als Gefängnis empfunden?

Ein grünes Tal und ein stilles Tal, eingerahmt von den Bergkämmen des Letterbrickaun und der 645 m hohen, aber sehr viel höher wirkenden Mutter des Teufels. Der Titel einer Erzählung von Sean O’Faolain kommt mir in den Sinn, The Silence of the Valley. Ort der Handlung: ein kleines Hotel in einem abgeschiedenen Tal, in dem ein paar Iren, ein paar Touristen, ein Landstreicher und ein Priester aufeinandertreffen, während im Dorf ein alter Schuster seine letzten Atemzüge macht.

Ein alter Ire, dem Aussehen nach einem Skizzenbuch Gertrude Degenhardts entwichen, kommt uns entgegen. Nach einigen Bemerkungen zum Wetter die unvermeidliche Frage: “From where you are?” Nachdem dies zu seiner Zufriedenheit geklärt ist, verabschiedet er sich mit einem ‘have a nice day’, und unsere Wege trennen sich.

Am Scheitelpunkt des Rundwegs liegt das Tír na nÓg B&B. Es macht einen recht ordentlichen Eindruck. Ein Hund schweift still ums Haus, zwei andere hört man bösartig kläffend aus einem verschlossenen Schuppen. Sonst ist niemand zu sehen. Doch! Eine Schafschar trabt auf uns zu, gefolgt von einem weiteren Hund und einem Mann, dessen Laute weder Englisch noch Gälisch klingen. Wir treten beiseite und lassen sie passieren.

Hinter einer Brücke macht der Weg einen scharfen Knick nach rechts und führt parallel zu einem kleinen Fluss im Bogen wieder aus dem Tal heraus. An den gegenüberliegenden Hängen fallen uns große, von Steinwällen umrahmte Wiesen auf, Zeugen einer Zeit, in der die Region um Leenaun ein bedeutendes Zentrum der irischen Schafzucht war. Außerhalb der Wälle hat das Gras eine andere Farbe, ein stumpferes, weniger leuchtendes Grün. Am Hang links des Weges machen wir oberhalb von uns eine Höhle aus. Eine Schnapsdestille? Diese Zeiten sind vorbei, heute wandelt man in abgelegenen Tälern eher Heizöl in Diesel um.

Tal der Gefangenen, Irland, Leenaun, © 2007 Juergen KullmannEin Geräusch hinter uns, wir schauen uns um. Da trabt die Schafherde, die uns vor zehn Minuten noch entgegenkam, plötzlich hinter uns her. Auf ein Wettrennen wollen wir uns nicht einlassen, also lassen wir uns überholen. Ein paar hundert Meter voraus begibt sich der Trupp durch ein Gatter auf eine Weide, und nun erkennen wir, was hier abläuft: ein Hund wird im Schafhüten trainiert. Die kleinen zwickt er, während er auf Zuruf um sie herumhetzt, in den Schwanz, doch vor den großen hat er Respekt. Ob er schon einmal einen Tritt abbekommen hat?

Auf dem letzten halben Kilometer zur Straße schwindet die Einsamkeit. Rechts und links des Weges tauchen ein paar Häuser auf, da bastelt jemand im Gebüsch an einem Auto. Der Rundweg durch das Tal endet nur 100 m von seinem Start an der N 59 – und da sitzt auf einer Bank der alte Ire, dem wir vor einer Stunde begegneten. Ob wir die Gefangenen gefunden hätten, will er wissen. Er habe auch keine Ahnung, wie das Tal an seinen Namen gekommen sei.

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Dienstag, 19. Juni 2007

Raindrops keep falling on my cottage. Schon nach dem Frühstück entfachen wir ein Feuer im Kamin. Mein Mädchen malt Wellen, die ans Ufer preschen, und als es ihr zu viele werden, malt sie einige wieder weg.

*  *  *

Gegen Mittag lunchen wir im Bard’s Den in Letterfrack. Die Half Roasted Duckling, die die Liebste für fast 18 Euro geordert hat, ist ihr Geld zwar nicht wert und meinem Chicken Kiev fehlt ein wenig der Knoblauch, doch man sitzt gut und kann Leute beobachten. Rechts von uns die Bar, vor uns drei große Poster von Gertrude Degenhardt.

An der Bar sitzt ein Mann im Outfit eines Wildhüters aus den Rocky Mountains und trinkt ein helles Bier. Das dicke Barmädchen stellt ihm eine Riesenportion Chips und einen nicht minder voluminösen Burger hin, den er tapfer in Angriff nimmt. Wir bekommen ein paar Gesprächsfetzen mit. “What did you study?” er zum Barmädchen. “Business”, lautet die Antwort. Dann lässt er sich die verbliebenen Hälfte seines Burgers in Alufolie packen und macht sich von dannen.

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Mittwoch, 20. Juni 2007

Die Nächte werden immer kürzer, und so stehen wir immer später auf. Nach dem Frühstück, das heißt gegen elf Uhr, fahren wir nach Cleggan.

Auf der Pier parken Autos, ansonsten wirkt sie erstaunlich aufgeräumt. Die Erklärung liefert eine schon etwas verblichene, an einen Pfosten genagelte Bekanntmachung, mit der die Eigentümer des jahrelang auf der Mole deponierten Gerümpels gebeten werden, selbiges abzuräumen, da der Galway County Council wegen der Bauarbeiten auf Inishbofin Platz für eigenes Gerümpel braucht. Wer seine Kisten, Tonnen, Netze, Seile &c. nicht entferne, müsse mit einer kostenpflichtigen Entsorgung durch die Behörden rechnen.

Während ich die Verlautbarung derart übersetzt vorlese, spricht uns ein rüstiger deutscher Rentner an, der Eigner der Glückspilz, wie sich bald herausstellt. Die Glückspilz ist ein für unser Empfinden recht kleines Segelboot, das mit seiner zweiköpfigen Besatzung von Kiel via Edinburgh, Kaledonien-Kanal, Hebriden, Isle of Man, Dublin und Cork nach Cleggan gefunden hat.

Wir zeigen uns beeindruckt ob dieses Törns. Eine solche Strecke mit einem so kleinen Schiff?! Und wie soll es weitergehen? Man nehme gerade Proviant auf, verrät der Skipper, um dann zu den Shetlandinseln zu segeln. Von dort wolle man nach Norwegen und schließlich über Bergen zurück nach Kiel. Zwei Männer und ein Boot, und da kommt auch schon das zweite Besatzungsmitglied mit mehreren Einkaufsbeuteln von Oliver Coyne’s zurück. Der Laden habe ja alles! strahlt der Proviantmeister, sogar französische Baguetten, und weist auf Brotstangen, die aus einem der Beutel ragen. Es sei das einzige Brot, das man hier essen könne. Wir äußern unsere Verwunderung, dachten wir doch immer, Seefahrer lebten von Schiffszwieback und Wasser.

*  *  *

Wir wandern entlang der Küste zur Sellerna Bay. Die kläffenden Köter bei dem Haus am Wegesknick, die uns diesen Spaziergang in der Vergangenheit oft verleidet hatten, sind nicht daheim. Statt dessen bemuttert auf der Weide gegenüber eine Stute ihr Fohlen.

Vor uns nun die Bucht; etwas mühsam stolzieren wir über ein Bett aus klackernden und verrutschenden Kieselsteinen zum Sandstreifen an der Wasserkante. Mein Mädchen läuft in ihrem grünen T-Shirt den Spülsaum entlang, hinter ihr das Meer, das ebenso grüne Flecken aufweist. Über allem ein heute eher grauer Himmel, auch wenn hier und da ein ganz kleinwenig Blau durchschimmert. Aus der Cleggan Bay kommt ein Segelboot, es muss die Glückspilz sein, die Kurs auf den Atlantik und die Shetlandinseln nimmt. Oder heißt es der Glückspilz? Uns erscheint das Schiffchen winzig für ein solch gewaltiges Unterfangen. Es entschwindet unseren Blicken.

Rechts der Bucht weiden oberhalb einer Abbruchkante Kühe mit ihren Kälbern. Kein Zaun schützt sie vor dem Absturz. “Guck mal Mama, wie weit wir uns an den Rand trauen!” scheinen zwei Kälbchen zu rufen. Der Mama schert es wenig. Das dritte Kalb ist weniger mutig, vielleicht auch nur schlauer, und grast weiter oben im Schutz einer Mauer.

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Donnerstag, 21. Juni 2007

Nun hat auch die Tourismusbehörde den Wanderweg über die Spitze der Renvyle-Halbinsel entdeckt und ihm als Ableger des ‘Connemara Loop’ ein Faltblatt gewidmet. Doch unsere Variante ist schöner – mehr Feldwege und weniger Straße.

Von den Häusern an der Nordost-Flanke des Tully Mountain hat man einen der besten Blicke über die Spitze der Halbinsel: ein paar bäuerliche Anwesen, ein paar Ferienhäuser und von Trockensteinmauern eingefasste Weiden. Im Osten erstreckt sich ebenfalls von einer Mauer umgeben über einen sanften Hügel hinweg der Friedhof von Renvyle, auf seiner Kuppe die Ruine einer Kapelle. Teampall na Seacht nInghean, die ‘Kirche der sieben Töchter’, wurde der Überlieferung nach von einem englischen König zum Dank für die Heilkraft einer nahe gelegenen Quelle errichtet. Johnnies Mutter liegt hier begraben.

97 Jahre ist Lena Coyne geworden, Johnnie, ihr Ältester, nur 86. Gestern Nachmittag hatten wir in Mullaghgloss seine Witwe Margaret besucht. Eine Schwester Johnnies war zu Besuch, 77 Jahre alt, mit pechschwarzem Haar und unheimlich agil. Wahrscheinlich wird sie noch mit 97 ihren Opel Corsa durch die Gegend kurven. Zwei Katzen wohnen bei ihr, erzählte sie, ihre besten Freunde seit dem Tod ihres Mannes vor 15 Jahren. Ob sie in ihrem Cottage eine Glaskugel hat und aus der Hand lesen kann? Auch einen Sohn hat sie bereits verloren und auf seinem Grab unweit der Friedhofsmauer eine kleine irische Flagge aufgestellt. Er habe das Land so geliebt! Wir erinnern uns an die Stelle, haben dort schon oft auf einer Bank gesessen. Nicht nur das Grab, auch den Streifen zwischen Grab und Mauer hat sie mit Blumen bepflanzt – ungewöhnlich für irische Sitten, bei denen man auf den Friedhöfen der Natur meist freien Lauf lässt.

Margarets zwölf Kinder leben alle noch, doch der Tod eines Schwiegersohns in der letzten Woche hat sie sehr mitgenommen. Sie war Zimmermädchen im Renvyle House Hotel, als sie ihren Johnnie vor mehr als einem halben Jahrhundert heiratete. Anders als ihr Mann ging sie nur selten aus, Pubs waren und sind ihr ein Graus.

Auch ihre druidenhafte Schwägerin trauert den alten Zeiten nach, in denen man sich am Abend in einem der Häuser der Dorfgemeinschaft traf, Musik machte und Geschichten erzählte. Das Fernsehen habe alles kaputt gemacht, meint sie, allen voran diese ‘terrible soaps’! Sie hasse Soaps! Für die Wettervorhersage sei das Fernsehen ganz brauchbar, doch dann schalte sie ab und lese. Und lese. Und lese ...

*  *  *

Trotz der Vorbehalte der beiden Damen gegenüber Pubs finden wir uns am Abend in Mannion’s Bar in Clifden ein. Micky Martin ist mit seiner ‘Harp Brigade’ angereist, wobei der Bodhrán-Spieler dem Kalle Johannsen vom Husumer Dragseth Duo verdammt ähnlich sieht. Ein netter Abend, vor allem wenn Micky zur Harfe singt. Nur ist er manchmal etwas albern und meint den Entertainer spielen zu müssen, was ihm ganz und gar nicht liegt.

Ein Nachtrag

Da hat mein Liebster doch glatt vergessen, dass wir an jenem Abend ein Highlight irischer Kochkunst kennen gelernt und genossen haben. Wo der nur seinen Kopf hat! Ort der Handlung: das Off the Square in Clifden:

Starter: Turnip & Coco Soup

Main: Organic Salmon mit verschiedenen grünen Gemüsesorten, mariniert in Ingwer und Koriander, dazu eine Mangosauce sowie gebackene neue Kartoffeln und Butter.

Einfach köstlich! Für zwei Personen einschließlich der Getränke 50 €, aber das Geld wert. Schade, dass wir hier nicht schon früher waren.

H.

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Freitag, 22. Juni 2007

Ein Tag, über den es nicht viel zu berichten gibt – außer, dass er mit einem Hexenschuss beim Duschen begann, auf den ein Besuch bei Frau Dr. Nee in der Zweigstelle des Western Health Board in Tully folgte. Die Plastikkarte der deutschen Krankenversicherung ward akzeptiert, und eine Ration ‘Painkillers’ gab es in eine Tüte abgefüllt gleich mit. Geld wollte man keins.

Sachtes Gehen ist für ein demoliertes Kreuz besser als Sitzen, und so verzichten wir auf größere Exkursionen, und mein Mädchen fährt uns, nachdem ich mich mühsam auf den Beifahrersitz geschoben habe, nur wenige Meilen über die N 59 in Richtung Leenaun. Wo an der Tullyconer (irisch: Tullaigh Uí Chonchúir, O’Connors Hügel) Bridge der Bunowen River in einer Senke die Nationalstraße kreuzt, lässt sich rechterhand auf einem Schotterplatz gut parken. Ein Stück zurück auf der anderen Straßenseite zweigt ein Wirtschaftsweg ab, der an einem einsamen Anwesen vorbei zum Killary Harbour führt. Hier waren wir zuletzt vor zehn Jahren, doch hat sich kaum etwas verändert: vor uns das nach Westen enger werdende, vom Fjord eingenommene Tal, jenseits des Wassers die kahlen, unwirtlichen Hänge des Maol Réidh und – nicht zu überhören – das Blöken der Schafe an den Hängen über uns und auf den zum Wasser abfallenden grünen Wiesen. Zwei Schaffarmer flicken einen Zaun. Die Zeit macht Pause, der keltische Tiger schläft.

Der asphaltierte Wirtschaftsweg geht in einen Fußpfad über, und wer will, kann ihm bis zur Mündung des Fjords in den Atlantik folgen. Doch so weit wollen wir heute nicht, treten nach einer Stunde den Rückweg an und sitzen zwei Stunden später vor dem ‘Leenane Cultural Centre’ in der Sonne, vor uns den obligatorischen Lemon Cheese Cake, ohne den kein Irlandurlaub zu Ende gehen darf. Der Kuchen ist aufgegessen, ich bringe Teller und Tassen wieder rein und entdecke beim Verlassen des Craftshops eine

New DVD for Sale!

DVD CoverNicht über Leenaun, sondern alte Filmaufnahmen von den Araninseln. Hier ins Deutsche übersetzt die Inhaltsangabe:

In den frühen 1960-er Jahren, noch eher die Elektrizität und das Fernsehen kam, filmte Pádraig Ó Síochain das Leben auf den Araninseln. Vierzig Jahre später kam anlässlich der ersten öffentlichen Vorführung sein Sohn Ruairí nach Inis Mór. Der Film berichtet von seiner Rückkehr und zeigt dabei die alten Filmaufnahmen.

Der Titel der DVD: Aran Islands, A Journey Through Changing Times. Das klingt doch interessant, sie geht mit.

*  *  *

Am Abend gibt es Musik in der Bar des Renvyle House Hotels. Zu Frank hat sich eine quirlige Fiddle-Spielerin aus dem Clan der O’Flahertys gesellt. Sie begleitet einfühlsam seine Lieder und Balladen, doch bei den Jigs und Reels war unser Johnnie in seinem neunten Lebensjahrzehnt auch nicht schlechter.

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Sonnabend, 23. Juni 2007

Und in der Tat, mit ‘Forty Shades of Grey’ endet dieser Urlaub. Meinem Kreuz geht es etwas besser, le cunamh Dé, auch ohne die Painkiller von Ms. Nee, die ich bereits nach einer Pille wieder abgesetzt hatte. Einen 7-Tage-Vorrat hat die gute Frau mir mitgegeben – was glaubt sie, wie lange mich mit so einer Rückenattacke abgeben will?

Vierzig graue Schattierungen des irischen Himmels liegen über Kylemore Abbey, als wir das Schloss passieren. Nicht nur unser Urlaub geht zu Ende, auch die Zeit des von den Benediktinerinnen 1920 im Schloss eingerichteten Mädcheninternats. Sobald die letzten noch verbliebenen Schülerinnen ihr Leaving Cert abgelegt haben, schließt es für immer die Pforten. Die Schülerinnen bleiben fort, doch wir sind in elf Monaten wieder da.

Kylemore Abbey, Irland, © Juergen Kullmann

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Weitere Reiseberichte


Reiseberichte Irland: Connemara 2007
© 2008 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 05.03.2009