Irisches Tagebuch 2007

Forty Shades of ... ?

 

Prolog

Vor einigen Wochen fand ich in einem Rucksack einen alten Bierdeckel, darauf die folgende Notiz:

Rezept für die Liebste zwecks Stress- und Anspruchsdenkeneliminierung: Jeden Tag zwei Stunden aufs Meer gucken, eine Stunde lang die Kälber in Connemara beobachten, eine Stunde die Schafe auf den National Roads betrachten, drei Pint Guinness in zwei Pubs trinken, zwei Stunden Musik in einem Pub hören, zwei Portionen Chips essen, ein Torffeuer anzünden und eine Stunde lang übers Moor spazieren.

Eine ganze Weile hatte es funktioniert, doch nun ist der Stress zurückgekehrt. Da hilft nur eines: nach Irland fahren.

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Sonnabend, 2. Juni 2007

Ein neues Stück Autobahn, bis Kilbeggan – den meisten ist der Name eher als Whiskeymarke bekannt – führt sie nun in den irischen Westen. Umso schneller erreichen wir den großen Stau von Moate, der sich beeindruckender als je zuvor präsentiert.

So viel Auto fürs Geld hatten wir noch nie. Ob die Leute von AVIS geahnt hatten, dass wir darüber berichten werden? Für einen ‘Opel Corsa oder ähnlich’ hatten wir gezahlt, und sitzen nun in einem fast funkelnagelneuen (1.200 km) viertürigen Nissan Tiida mit Klimaanlage und Sitzen in schwarzer Veloursleder-Optik. Einen Riesenkofferraum hat das Ding! Den muss mein Mädchen nutzen und kann sich beim Lidl in Athlone kaum bremsen. Es wird ein Einkauf für mehr als nur das erste Wochenende. Gut 120 Euro zahlen wir am Ende, allein ein Drittel davon für Wein.

Es regnet, mal mehr und mal weniger, und besonders heftig, als wir ein Stück vor Galway aus dem Auto zu Mother Hubbert’s sprinten. Die Chicken Wings in dem Restaurant sind alles andere als ‘crispy’. Mutter Hubberts Dependance bei Kinnegad war eindeutig besser, doch die neue Autobahn hat sie vom Touristenstrom auf der Ost-West-Achse abgeschnitten.

Weiter geht es, nördlich um Galway herum nach Connemara. Mein Mädchen sitzt am Steuer. Wir passieren Uachtar Ard, dessen gälischer Ortsname deutschen Touristen leichter von der Zunge kommt als die anglisierte Form Oughterard. Es hat aufgehört zu regnen, das Grau am Horizont wird differenzierter. Helle Flecken am westlichen Himmel lassen die Sonne dahinter erahnen. Wie pflegt man Irland zu charakterisieren – ‘forty shades of grey’, vierzig Schattierungen von Grau?

Ein Stück hinter An Teach Dóite Blaulicht und die Garda. Ein Auto hat sich überschlagen und liegt wie ein auf den Rücken gefallener Käfer im Moor. Vielleicht haben uns Mutter Hubberts glibberige Chicken Wings davor bewahrt, in den Unfall verwickelt zu werden. Mit gedrosseltem Tempo fahren wir weiter, biegen hinter Sráid Salach nach rechts ins Inagh Valley ab. Nicht ein Fahrzeug kommt uns entgegen. ‘The Silence of the Valley’, das stille Tal, lautete der Titel einer Erzählung von Sean O’Faolain, die mir in den Sinn kommt. Es wird hoffentlich immer so still bleiben. Drei Anwesen auf zwanzig Kilometern: gleich zu Beginn ein schon vor Jahren verlassenes Restaurant, einige Kilometer weiter mit Blick auf den See ein graues, mittlerweile zum Verkauf stehendes Haus und dann gegenüber einem kleinen Anleger die Inagh Valley Lodge, die einst einem regierenden indischen Prinzen gehörte und jetzt eine Residenz für wohlbetuchte Angler ist.

*  *  *

Gegen acht sind wir in Tully Cross. Der Schlüssel steckt an der Cottagetür, Anne hat die Heizung aufgedreht. Wir räumen das Auto leer und holen unseren Kram vom Dachboden – – – nanu, da hatte wohl ein Gast von unserer Musikanlage gehört und in unseren Reisetaschen gewühlt. Die Lautsprecher und dazu passende deutsche Mehrfachsteckdose mit englischem Anschlussstecker liegen daneben. Immerhin war der Unbekannte so nett, bei seiner Abreise alles zurück auf den Dachboden zu schieben. Nur eine Vase in einer der Taschen ist zu Bruch gegangen.

*  *  *

Tuer Paddy Coynes, © 2007 Juergen KullmannDas Cottage ist eingerichtet, es geht auf zehn Uhr zu. Was nun? Zur Musik in Molly’s Bar nach Letterfrack? Seit 18 Stunden auf den Beinen, sind wir einfach zu müde, doch ein Pint im Paddy Coyne’s sollte noch drin sein. Das erste Guinness seit elf Monaten. Wir sitzen auf der Bank gegenüber dem Kamin, an der Bar ein Amerikaner aus Michigan mit ‘irischen Wurzeln’, der seinen drei Zechgenossen die ‘irische Seele’ erklärt. Ob sie den ‘beautiful song Willie McBride’ kennen würden, will er wissen. Nein? Er beginnt zu singen ... Hm, da hatte der Autor dieses Textes wohl doch recht:

Have you heard the old song about Willie McBride,
If I hear it again it will turn me insides,
For it’s sung in the springtime, and it’s sung in the fall
And mostly by people who can’t sing at all.
You go out for a drink on a Saturday night
For a pint and a song, and things are alright,
Until some drunken boozy sits down by your side,
And he asks for the one about Willie McBride ...

Doch lassen wir Willie ruhen in Frieden und gehen wir zu Bett.

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Sonntag, 3. Juni 2007

Nichts mit den ‘forty shades of grey’ – die Sonne scheint. Sollten wir schon wieder den Sommer mitgebracht haben? Der Wecker zeigt acht Uhr fünfzehn, mein Mädchen steht auf und setzt einen Kaffee an. Im Urlaub ist sie dafür zuständig. Dann fällt uns ein, dass wir die Uhr nicht umgestellt haben und es erst kurz nach sieben ist.

Gegen halb zehn (Ortszeit) schlendern wir die immer noch menschenleere Straße nach Tully hoch. Die Eingangspforte zum Rainbow House, das einst Regine und Rainer gehörte, ist grün gestrichen. Vor allem Rainer hatte sehr an dem Haus gehangen. Trotz Einladung der neuen Besitzer, einem Paar aus Galway, werden sie wohl nicht mehr zurückkommen. Es fällt ihnen schwerer als erwartet, es in fremden Besitz zu sehen.

Nach einem kurzen Besuch des Tankstellenladens – eine Zeitung geht mit – wandern wir zum Kai. Er liegt fast trocken. Noch nie haben wir hier ein Schiff gesehen, und doch wirkt der Anleger nicht aufgegeben. Ihn anzusteuern dürfte nicht ungefährlich sein, jetzt bei Ebbe sieht man vor der Einfahrt eine scharfe Felsspitze aus dem Wasser ragen.

Wir sind allein auf der Welt, abgesehen von ein paar Kühen, die die beiden Touristen neugierig beäugen. Oder bilden sich die Zweibeiner zuviel auf sich ein, und die Kühe schauen an ihnen vorbei aufs Meer? Wir setzen uns auf die Mauer, blicken über das Wasser auf die kahlen Berge Mayos und stellen fest, dass es uns unverschämt gut geht.

*  *  *

Es wird Nachmittag. Wir wandern entlang der Küste zum Friedhof von Mullaghgloss, wollen Johnnie besuchen. Dort, wo der Weg einen Bogen macht und zur Lettergesh Road hinunterführt, sieht man in der Ferne das Haus, in dem Johnnie mehr als ein halbes Jahrhundert gelebt hatte. Anfang Januar starb er im Alter von 86 Jahren. Auf dem Friedhof steht ein großes neues Holzkreuz, sein Grab?

Das Gittertor quietscht wie ehedem. Ein Frauenname steht auf dem Holzkreuz, nur ein Vorname, sonst nichts. Johnnie muss seine letzte Ruhestätte woanders gefunden haben. Nicht weit vom Eingang entdecken wir ein weiteres neues Grab, sehr gepflegt und, das ist selten, mit echten statt Plastik-Blumen. Wir haben das Gefühl, dass Johnnie hier begraben liegt.

*  *  *

Out of ConnemaraLivemusik bei Sammon’s. Frank und Kieran stimmen schon ihre Instrumente, als wir hereinkommen. Lange nicht mehr gesehen – und dabei waren die beiden im Oktober in Arnsberg. Es sei alles so plötzlich gekommen, erzählt Frank, an einem Montagabend habe Rolf Brand angerufen und sie zur Vorstellung der gemeinsamen CD am Mittwoch darauf eingeladen. Zu wenig Zeit, uns zu informieren. Out of Connemara ist der Titel des Albums, aufgenommen in einem Cottage hier auf Renvyle und herausgegeben vom Arnsberger Lions Club zugunsten eines Netzwerks gegen Kinderprostitution.

Sollen wir uns ärgern? So gut wie die von uns organisierte Session vor drei Jahren* kann es gar nicht gewesen sein! Auch heute geben sich Frank und Kieran wieder besonders viel Mühe, und zum Schluss stepptanzt Tim O’Sullivans Tochter einen Reel.

* Siehe 10. Juni 2004

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Montag, 4. Juni 2007

Nach dem Frühstück schaut Anne Jack rein, und wir werden unser Geschenk los. Sie erzählt von Johnnies Beerdigung – ‘a great event with music, he really would have enjoyed it’ – und wir erfahren, dass auch Brians Frau nicht mehr lebt. Es war ihr Name, den wir gestern auf dem großen Holzkreuz auf dem Friedhof von Mullaghgloss lasen. Viel Glück hatten wir ihr beim Abschied vor fast einem Jahr gewünscht, wissend von ihrer schweren Krankheit. Wie lange Brian den Laden wohl noch weiterführt? Schon sein Vater, der legendäre Paddy Coyne, hatte nach dem Tod seiner Frau jeden Geschäftssinn verloren.

Wir wandern die Straße zur Brücke über den Dawros River hinunter und dann weiter zum Derryinver Quay. Das Areal um den Anleger macht einen schmuddeligen Eindruck, nur ein frisch geteertes, kieloben liegendes Curragh glänzt in der Sonne. “Sollte ich mal Menschen malen”, meint mein Mädchen, “dann lasse ich sie ein Curragh tragen – dabei sieht man nur die Beine. Gleich eine ganze Bildserie:

– Männer mit Curragh auf dem Weg zum Pub
– Männer mit Curragh gehen shoppen (eine Einkaufstasche hängt hinten am Boot)
– Männer mit Curragh unterwegs zur Kirche (die Beine tragen Sonntagshosen)
– Männer mit Curragh besteigen den Croagh Patrick (barfuß, versteht sich)

Die Kritiker werden versuchen die verborgene Aussage zu ergründen, ein Kunststudent mit dem Thema Vier Fischer auf der Suche nach dem verlorenen Meer promovieren – aber niemand darauf kommen, dass ich keine Gesichter malen kann.”

Auf einem Hügel oberhalb des Hafens finden wir einen trockenen Sitzplatz und blicken über die verzweigte Bucht. Cuan Bhaile an Chile, Hafenbucht am Kirchdorf, lautet der gälische Name. Welches der Dörfer rund um die Bucht mag das Kirchdorf sein, das ihr diesen gab? Das Glasbodenboot von Ocean’s Alive tuckert vorbei. Noch nie haben wir gehört, dass jemand durch seinen Glasboden einen Fisch sah.

Ich packe mein Notizbuch ein und wir wandern heimwärts, diesmal über das Moor. Vielleicht kommt der Fisch heute Abend ja auf den Tisch, da macht er sich auch nicht schlecht.

*  *  *

Früher Nachmittag. Wir fahren nach Letterfrack, wollen ein paar Zutaten fürs Abendessen einkaufen. But what’s that? Bislang durch eine Zwischentür mit dem Pub verbunden, ist Veldon’s Shop in ein imposantes Gebäude links daneben umgezogen, das im vergangenen Jahr noch im Bau war. Das handtuchschmale Lädchen mit seinen Spezialitäten, die man selbst im SuperValu von Clifden nicht fand, gibt es nicht mehr. Groß und übersichtlich präsentiert sich nun alles, doch drinnen sehen wir die alten Gesichter, und die Bandbreite des Warenangebots ist weiterhin beeindruckend.

Als wir aus der Tür kommen, rollt uns Mr. Veldon, seit einer Operation vor zwei Jahren arg gehbehindert, auf seinem Elektromobil entgegen. Sein neuer ‘Country Shop’ ist barrierefrei, und so kann er mit dem Gefährt durch die Gänge rollen und alles persönlich checken.

“A great new shop”, zeigen wir uns beeindruckt, und er stoppt nicht ohne Stolz. Ja, der alte Laden sei zwar ‘more cosy’ gewesen, gibt er zu, doch der neue die einzige Chance, wirtschaftlich zu überleben und zu verhindern, dass sich in Letterfrack eine Ladenkette breit macht und das ‘local business’ verdrängt. Bei allem habe er jedoch versucht, die ‘alte Tradition’ zu wahren, und werde auch künftig neben den üblichen Lebensmitteln Spezialitäten ins Angebot nehmen, die andere nicht führen.

Wir wünschen ihm viel Erfolg.

*  *  *

Die Flut kommt, © 2007 Hildegard Vogt-KullmannEs wird Abend. Wir sitzen auf einem Stein am Renvylestrand, von dem nur noch ein schmaler Streifen geblieben ist – die Flut hat ihren Höhepunkt erreicht. Die Wellen rollen in breiter Front heran und die Gischt springt über die sonst trocken aus dem Sand ragenden Felsformationen. Wohl eine Stunde lang schauen wir über das Wasser, in der Ferne die Berge Mayos, und lassen uns vom salzigen Nebel umwehen. Dann wird es uns zu kalt und wir brechen auf.

Eine Meile weiter stoppen wir vor der Ruine von Renvyle Castle. Je älter ein Gemäuer, um so besser macht es sich im Sonnenuntergang. Das weiß der alte Wehrturm und lässt sich stolz fotografieren. “Und wir?” fragen zwei bunte Boote im Gras. “Nun gut, ihr also auch”, sagt die Kamera und macht klick.

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Dienstag, 5. Juni 2007

In Clifden wird immer noch gebaut, der Komplex gegenüber der Kirche an der Straße nach Galway ist nun fast fertig. Wir parken auf dem dahinter liegenden Parkplatz, dem einzigen kostenfreien der Stadt.

Station House Clifden, © 1998 Juergen KullmannAuch hinter dem Stationhouse, dem alten Bahnhof, in dem sich (s. rechts) seit nunmehr zehn Jahren ein Restaurant und ein Pub befindet, wird gewerkelt. Aus einem 100 Jahre alten Lagerschuppen entsteht hier das Clifden Goods Store Theatre. Die Umwandlung in ein Kulturzentrum hat schon manch einem früheren Lagerhaus das Leben gerettet, nicht nur in Irland. Im August will man eröffnen, aber so ganz sieht uns die Baustelle danach nicht aus. Verschwunden ist der alte Eisenbahnwaggon, der hier immer stand. Wird er nun restauriert oder verschrottet?

Es ist ein warmer Sommertag, die Bank-Holiday-Urlauber sind abgereist. Nur wenig Kundschaft zeigt sich in den Läden. Wir wandern ums Karree, bummeln – nicht, dass wir etwas kaufen wollen! – durch die Shops und werden am Ende dann doch fündig: eine blaue Fleece-Jacke für mein Mädchen zum Schnäppchenpreis von 20 € bei Hehir’s an der Market Street. Ob man sie braucht oder nicht, bei dem Preis kann man nicht widerstehen.

*  *  *

Auf der Heimfahrt ein Stopp in Letterfrack, der Postmeisterin guten Tag sagen und zehn Briefmarken kaufen. Vor mir steht ein Bärtiger (nicht der aus dem Norden), mit der Posthalterin diskutierend. Wie es aussieht, geht es um eine etwas kompliziertere Transaktion. Er dreht sich um, zögert einen Augenblick: ich sei doch der ‘mit der Website über Johnnie Mark’ nicht wahr? Er habe Johnnie immer gedrängt mehr zu schreiben, schon seit Jahren. Und nun sei es zu spät.

Woher kennt mich der Bärtige? Am Sonntagabend sah ich ihn flüchtig bei Sammon’s, habe jedoch kein Ton mit ihm gesprochen. Mysteriös. Auch die Postmeisterin blickt auf. Eine Website über den verstorbenen Johnnie Mark? Nur ein paar Seiten, versuche ich zu erklären, die er vor Jahren über seine Jugend zu Papier gebracht hatte, dazu einige Briefen, in denen er aus seinem Alltag erzählt. Das interessiere sie nun aber auch, meint sie, und ich schreibe ihr die Internetadresse auf einen Zettel.

*  *  *

Noch etwas haben wir aus Clifden mitgebracht, Hühnerbrustfilets, Paprika und Zwiebeln, und bereiten nun an einem Tischchen vor dem Cottage unser Dinner vor, Hühnchenspieße. Dazu ein Salat; das als Beilage vorgesehene Baguette mutierte im Backofen zum Brikett. Doch wir haben ja noch Toastbrot. Derweil flattert hinter dem Cottage die erste Wäsche des Urlaubs im Wind. Nun aber rasch ein Torffeuer im Kamin entfachen, damit sie beim Trocknen den herrlichen Torfrauchgeruch annimmt.

Beim Trocknen? Ehe es dazu kommt, wird der Himmel grau und es fallen die ersten Regentropfen. Und so verbringen wir den Rest des Abends vor dem Kamin.

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Mittwoch, 6. Juni 2007

Jemand hat uns ein Faltblatt mit der Beschreibung eines kleinen Rundwanderwegs unter die Tür durchgeschoben. Er führt durch das Gleann na nGeimhleach, das ‘Tal der Gefangenen’ bei Leenaun, und ist Teil des ‘Connemara Loop’, eine vom Tourist Office vorgeschlagene Route durch Connemara. Da der Sommer nach der Schauer von gestern Abend zurückgekehrt ist, beschließen wir, uns diesen Ableger der ‘Connemara-Schleife’ einmal anzusehen.

Wir parken wie in dem Faltblatt empfohlen vor der Kirche von Leenaun. Ihr gegenüber liegt am Hang zum Killary Harbour der Friedhof der Gemeinde. Doch den Toten gönnt man nicht die wunderbare Aussicht auf den Fjord, sondern hat sie so gebettet, dass sie den Berg hoch blicken und des Teufels Mutter* vor Augen haben. Was sich die Kirche dabei wohl gedacht hat?

Bis zum Startpunkt des kleinen Rundwegs müssen wir ein Stück über die N 59 laufen. Die Sonne brennt, auf dem Asphalt bilden sich schwarz glänzende Teerlachen. Nur nicht reintreten. Noch ein Stück. Und noch ein Stück. Nimmt das denn gar kein Ende? Der Eingang zum Tal soll kurz vor einem Pub liegen, dem letzten im County Galway. Ob man dort nicht auch hätte parken können? Links geht es an einigen Stellen steil nach unten. Da heißt es aufpassen, dass man nicht von einem verrückten Autofahrer hinuntergeschubst wird.

Uns wird heiß, so könnten sich Gefangene auf ihrem Marsch in das gottverlassene Tal gefühlt haben. Doch wir sind keine, und so geben wir die Sache auf, kehren zum Auto zurück und fahren ein paar Kilometer weiter zu den Aasleagh Falls. Dort weht eine frische Brise.

*  *  *

River Eriff near Leenaun, © 2005 Paul GuilfoyleDie Aasleagh Falls wirken nicht sehr beeindruckend, wenn man sie – wie es meist geschieht – von der Brücke über den Erriff River aus fotografiert. Also wandern wir linkerhand den Fluss hoch, der im Irischen Abhainn Oirimh, ‘Fluss des Pflügers’ genannt wird. Woher der Name rührt, lässt sich schwer sagen, denn weit und breit sieht man keine zu pflügenden Felder. Das Bild malte der in Dublin geborene Paul Guilfoyle etwas oberhalb des Wasserfalls. Bei der Gelegenheit möchte ich mich noch einmal dafür bedanken, seine Bilder hier in meinen Reiseberichten verwenden zu dürfen.

Nach einigen hundert Metern erreichen wir ihn, Eas Liath, ‘Grauer Wasserfall’, heißt er im Irischen. Wir finden unterhalb der grau-braunen Felsen einen Sitzstein und beobachten die rauschende Gischt, die seit Tausenden von Jahren auf breiter Front in die Tiefe stürzt. Zehn Meter tief vielleicht, doch mein Mädchen meint, es sind eher weniger. Eindrucksvoll allemal, vor allem, wenn man die Gischt ins Gesicht geweht bekommt. Ob hier auch Lachse springen? Ein Stück flussaufwärts machen wir am anderen Ufer eine Fischerhütte aus.

*  *  *

Cottage Cat, © 2007 Juergen KullmannWie es scheint, haben wir wieder eine Cottage-Katze. Ob es die vom letzten Jahr ist, wissen wir nicht, sie tut aber so. Nach einem Antrittsbesuch im Craftshop des Leenaun Cultural Centre (Michael rundete unsere Rechnung für ein Buch und drei Ansichtskarten nach unten ab) und einem ersten Körperkontakt meines Mädchens mit den Wassern des Atlantischen Ozeans am Strand von Glassilaun sitzen wir nun vor dem Cottage, während nämliche Katze um uns herumstreicht: “Miauu, kennen wir uns nicht?” “Nun denn”, lassen wir uns bereden, “da es heute so heiß ist, hier ist etwas Milch mit Wasser.”

* ‘Devils Mother’ Name des Berges hinter Leenaun

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Donnerstag, 7. Juni 2007

Hildegard an Gisela – Letter From Home

Liebe Gisela — unser Cottage hat sich kaum verändert und ist mit dem Inhalt unserer Taschen vom Dachboden nun auch wieder nett eingerichtet. Die Fenster habe ich auch schon geputzt!

In diesem Jahr haben wir bei AVIS ein funkelnagelneues Riesenauto namens Nissan Tiida zum Preis eines ‘Opel Corsa oder ähnlich’ bekommen. Womit wir das verdient haben, wissen wir nicht. Ob die vielleicht wussten, dass Jürgen im Internet darüber berichtet?

Wie dem auch sei. Mit unseren beiden Trolleys und den zwei Rucksäcken war der Kofferraum immer noch nicht voll, und so habe ich mich beim Lidl in Athlone nach besten Kräften bemüht, die Lücken aufzufüllen, was mit mehr als 120 Euro zu Buche geschlagen hat. Vierzig Euro davon entfielen allerdings auf Wein.

Eine Klimaanlage hat dieses Luxusgefährt übrigens auch; ich wusste bis dahin gar nicht, das man dergleichen in Irland kennt. Und wir können sie sogar gebrauchen, denn die Sonne scheint, der Himmel ist blau und der Teer schmilzt auf den Straßen.

Viele Grüße aus Tully Cross
von Hildegard und Jürgen”

Der Chronist fährt fort

Es bleibt Sommer. Mein Mädchen will schon wieder ins Wasser, also fahren wir an den Glassilaun Strand, der es ihr schon gestern angetan hatte. Mit etwas weniger Strand und umso mehr Wasser präsentiert er sich heute. Das Eiland, auf das man gestern zu Fuß wandern konnte, ist wieder vom Meer umgeben. Jahrelang lag dort ein nicht mehr schwimmfähiges, altes Boot am Hang, ein idealer Platz um auf den Resten der Ruderbank Platz zu nehmen und die Landschaft und das Meer zu betrachten. Nun hat es sich die Flut geholt.

Mein Mädchen kontaktiert das kühle Nass, während ich versuche, in der Grasböschung am Rande des Strandes etwas Schatten zu finden. Es ist zu warm für das Land, doch das Wasser, so wird mir kurz darauf berichtet, zeigt sich davon unbeeindruckt und weist die Wärme ab. Gegen Mittag bilden sich Wolken über dem kahlen Gipfel des Maol Réidh. Ob daraus Regen wird?

*  *  *

Wir lunchen bei Veldon’s in Letterfrack. In der Ecke links neben uns tagt, so unser Eindruck, der Gemeinderat. Die Moderation liegt bei einer gerne und viel redenden Dame, die wie auf Kommando innehält, wenn Mr. Veldon, die unbestrittene Respektsperson in diesem erlauchten Kreis, zu einer Bemerkung ansetzt. Die anderen machen sich Notizen, unter ihnen ein junger Deutscher, der zu Beginn der Sitzung vorgestellt worden war und freundlich-interessiert in die Runde schaut. Auf dem Tisch liegt etwas, das wie ein Katasterplan aussieht, doch worum es letztendlich geht, das bekommen wir nicht mit.

Und so beschäftigen wir uns statt dessen mit unser Lammkeule und dem Guinness.

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Freitag, 8. Juni 2007

Einmal volltanken an der Petrol Station der Kylemore-Garage. Benzinpreis: € 1,19 pro Liter, damit kann man leben, dann geht es weiter nach Westport. Wohin zuerst? Lass uns zum Hafen fahren, meint mein Mädchen.

Das Konzept mit Hotels, Restaurants, Läden und Galerien in den vor einigen Jahren restaurierten alten Lagerhäusern, von denen außer der Front nicht viel geblieben ist, scheint nicht aufzugehen. Die Fluktuation ist sehr groß. Viele Lokale stehen wieder leer und suchen einen neuen Mieter. Kein Wunder, wo es doch keinen Fußweg zwischen der Stadt und dem Hafen mehr gibt, seit Lord Altamont, ein Nachfahre der legendären ‘Piratenkönigin’ Grace O’Malley, den lauschigen Pfad über das Anwesen von Westport House gesperrt hat, weil er nach eigenen Angaben die Versicherung nicht mehr bezahlen konnte. Vielleicht sollte der Town Council die Kosten für die Wartung und Versicherung übernehmen, damit die Touristen die Chance haben, zu Fuß vom Städtchen zum Hafen zu gelangen. Und der ist offensichtlich ausgebaggert worden, so dass hier erstmals ‘richtige Schiffe’ liegen.

Wir nehmen im Biergarten von The Quays noch einen Imbiss ein, ehe wir in die Stadt hochfahren.

*  *  *

Wir sind wieder auf dem Heimweg, im Gepäck eine quietschgrüne Hose und eine weiße Leinenjacke für die Liebste sowie die Zutaten für eine ‘Meeresfrüchtesuppe Connemara’. Der innerörtliche Verkehr macht Westport bald kaputt, haben wir den Eindruck, so wie sich die Autos durch die Bridge Street zwängen.

Inzwischen ist früher Abend, es herrscht nur noch wenig Verkehr auf der N 59. Wir erreichen Leenaun. Ein leichter Dunst liegt über dem Fjord, dessen Wasser die im Westen tiefstehende Sonne glitzern lässt. So ähnlich und genau so unfotografierbar muss die Stimmung gewesen sein, als Niamh auf ihrer weißen Stute aus Tír na nÓg über das Meer geritten kam, um Oisín ins Land der ewigen Jugend zu holen.

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Reiseberichte Irland: Connemara 2007
© 2008 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 05.03.2009