Irisches Tagebuch 1999

Am Ende des Jahrtausends

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Sonnabend, 5. Juni 1999

Am Ende des Jahrtausends noch einmal in Shannon gelandet, und das Wetter ist gar nicht so garstig, wie für Irland vorhergesagt. Der Himmel ist zwar grau, lässt aber dann und wann ein paar Sonnenstrahlen durch, und es gibt keine Probleme mit meinem Ohr, das mir im letzten Juni die Urlaubsfreude arg genommen hatte.

Nach längerer Pause ist Gisela ‘ein bisschen’ mit von der Partie. Ein bisschen, das heißt, mit eigenem Leihwagen und eigenem Cottage. Letzteres nennt sich White Heather und liegt auch auf der Renvylehalbinsel, zirka 20 Gehminuten vor Tully Cross gleich hinter der Brücke über den Dawros River. Der Besitzer Tim O’Sullivan ist mit einer Tochter von Johnnie verheiratet.

Und so trennen sich an den Mietwagenschaltern von Shannon fürs Erste unsere Wege: wir rollen mit unserem Gepäck zu National Car-Rental, Gisela zu AVIS. Wir erwischen den schnelleren Start und einen blauen Opel Corsa, derweil Gisela noch auf ihren metallic-grünen Ford Fiesta wartet.

Wie immer machen wir hinter der Eisenbahnbrücke von Gort eine Pause, um für das erste Wochenende einzukaufen. Ich bleibe im Auto sitzen und sehe nach einer Viertelstunde Gisela vorbeifahren. Wo wohl mein Mädchen bleibt? Nach drei weiteren Viertelstunden kommt sie endlich aus dem Laden, um 30 irische Pfund ärmer und drei Einkaufsbeutel reicher. Ein Ladenmädchen hilft tragen, wird mit 50 Pence belohnt, und weiter geht die Fahrt. Die Kreisverkehre um Galway nehmen wir mit Bravour, doch was zum Teufel haben diese neuen roten Ampeln im Kreisverkehr zu bedeuten, die kein Mensch ernst nimmt? Wir halten uns an unsere Vor-Fahrer und ignorieren sie. Dann kommen Oughterard und Maam Cross und wir sind in Connemara.

Nach einem kurzen Stopp vor Molly’s Bar in Letterfrack – Sally entschuldigt sich, keine Musik heute Nacht – geht es nach rechts die Halbinsel hoch. Leider wird die Straße von Jahr zu Jahr besser und artet immer mehr zur Rennstrecke für die Dorfjugend aus. Hinter der Derryinver-Brücke, nur wenige Meter nach dem Abzweig zum Ocean’s Alive, liegt das White Heather, und da steht auch schon Gisela neben ihrem Auto und Mr. O’Sullivan, der ihr unbedingt erklären will, wie die Zentralverriegelung an einem Ford Fiesta funktioniert. Da wir schon einmal da sind, machen wir die Führung durch das White Heather mit und fragen ihn nach seinem Schwiegervater, der, wie wir erfahren, mit seinen fast 79 Jahren immer noch Musik in den Pubs und Bars macht.

Fremde Ferien-Cottages beschreibe ich nicht, sind sie doch chancenlos im Vergleich zu unserem eigenen. So fahren wir nach einem kurzen Schnack weiter ins Dorf und nehmen unsere ‘Strohhütte’ in Beschlag. Der Begriff stammt aus einem deutschen Reiseführer, dessen Autor aus ‘thatched cottage’ ein deutsches Wort machen wollte. Anne Jack hat die Hütte bereits vorgeheizt.

Während des Auspackens beschließe ich Durst zu haben, muss also über die Straße in den Laden eine Flasche Wasser zu erstehen. Brian strahlt und beginnt nach einem Welcome Back! das Nato-Bombardement im Kossovo zu erörtern, ein Verbrechen an der Menschheit, wie er mehrfach wiederholt. In holprigem Englisch versuche die Hoffnung auf einen baldigen Friedensschluss auszudrücken, der den letzten Nachrichten zufolge recht nahe scheint. Musik, erfahre ich zum Abschied, gibt es heute Nacht nicht, der Grund ist eine Beerdigung am Vormittag.

*  *  *

Und so sitzen wir am späten Abend ohne Musik bei einem Pint Guinness im Paddy Coyne’s. Wie immer nach einer Beerdigung ist es rappelvoll, doch Noel, der Bestatter und Bruder des Pubbesitzers, macht uns Platz, auch wenn wir seine Dienste noch nicht in Anspruch genommen haben. IR£ 2.10 kostet das Pint in diesem Jahr, deutlich weniger als vor vier Monaten in Dublin. Dann kreuzt Gisela auf, und wir halten über unseren Pints nach lokalen Pubnasen Ausschau.

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Sonntag, 6. Juni 1999

Ein wenig klappt es schon, das späte Aufstehen, doch wir werden noch weiterüben. Und vom Irish Breakfast meines Mädchens kann sich das George Frederick Handel Hotel in Dublin – siehe Tagebuch vom Februar – eine Scheibe abschneiden.

In einer Senke zwischen den Dörfern und dem Berg liegt Lough Tully und mittendrin Heather Island. Das Haus auf der Insel, von Land aus kaum zu erkennen, war ziemlich heruntergekommen, als es vor drei Jahren Guy St. John Williams zu seinem ständigen Wohnsitz machte. Guy ist ein Enkel von Oliver St. John Gogarty, jenem Dubliner Essayisten, Schriftsteller, Bühnenautor, Poeten und Turmgenossen von James Joyce, für den die jahrzehntelange Regentschaft de Valeras über Irland verheerender als alle Feldzüge Cromwells waren. Daneben war Gogarty Senator und Besitzer des heutigen Renvyle House Hotels, über das die IRA 1922 den Roten Hahn flattern ließ. Denn bei allem Patriotismus war er Protestant und unterstützte den Kompromiss, der unter Ausschluss der sechs Provinzen im Nordosten zur Gründung des irischen Freistaates führte.

BuchcoverHeather Island blieb im Besitz der Gogartys und Guy erbte das Inselchen von seinem Großvater mütterlicherseits. Im letzten Jahr erschien sein Buch A Year in Connemara, in dem er über das Abenteuer berichtet, ein altes Haus auf einer kleinen Insel zu einem festen Wohnsitz zu machen. Was allerdings auffällt, ist, dass darin kaum alteingesessene Dorfbewohner erwähnt werden. Später erzählt uns jemand, dass der Besitzer von Heather Island als arrogant gilt. Doch genug der Vorrede. Durch das Buch* ist uns bewusst geworden, dass es einen Anleger geben muss, von dem aus man zur Insel rudern kann, und den wollen wir heute finden.

Oberhalb von Tully gleich hinter dem Renvyle Inn steht auf der linken Straßenseite das Teach Ceol, das Haus der Musik. Hier kann man im August Jigs & Reels tanzen lernen. Ein Fahrweg biegt nach links ab, die Richtung könnte stimmen. Dann macht er einen Knick nach rechts, während wir auf einer Schotterpiste geradeaus und leicht ansteigend weiterwandern. Ein Blick über die Schulter zeigt, dass Tully nun unterhalb von uns liegt, die Dächer des Renvyle Inn leuchtend in der Sonne. Halbrechts vor uns ein offenes Gatter, der Weg teilt sich. Wir sind schon fast vorbei, da überholt uns schnellen Schrittes ein local Irishman. Wir fragen nach dem ‘way to the sea’ – sorry, ‘lake’ hätte es natürlich heißen müssen. Doch er versteht uns und weist auf das Gatter.

Der Weg führt bergab, und zehn Minuten später sitzen wir im Windschutz eines Schuppens am Anleger und beobachten, wie die Insulaner in zwei Booten zum Festland rudern, zum Pub oder zur Messe. Vor dem Schuppen steht chromblitzend ein offener, dunkelgrüner Sportwagen im Stil der zwanziger Jahre, der Sitzbereich abgedeckt durch eine Lederplane. Wird hier ein Buch von Frau Pilcher verfilmt? Wohl doch nicht, denn ein Gefährt aus den Neunzigern holpert über den Schotter und holt die Insulaner ab.

*  *  *

Am Abend Musik im Angler’s Rest, Johnnie und Kieran spielen. Eine verkehrte Welt: da liest man in den Gebrauchsanweisungen für Irland, dass die Zuhörer die Musikanten mit Guinness zu versorgen haben, doch nachdem wir Johnnie im letzten Jahr ein paar Mal nach Hause gebracht haben, werden wir laufend mit dem schwarzen Stoff versorgt. “Das kann ja heiter werden”, seufzt mein Mädchen, “wenn das so weitergeht, müssen wir verdammt aufpassen, dass er nicht all sein erfiddeltes Geld in unser Guinness investiert.” Als die Bar schließt, stehen – ungefragt – schon wieder zwei volle Pints vor uns.

Kieran baut die Lautsprecher ab und Johnnie erzählt von der gestrigen Beerdigung. Ein Mädchen aus seiner Schulklasse, gerademal 78 Jahre alt. Nie verheiratet, wurde sie die Haushälterin des Gemeindepriesters, ging mit ihm nach Dublin und stand 45 Jahre in seinen Diensten, bis sie letzte Woche starb. Nun ist der Priester mit ihr nach Renvyle zurückgekehrt und hat sie hier begraben. Es war das erste Mal, dass er einen Priester in einer Messe hat weinen sehen, sagt Johnnie, die traurigste Beerdigung, an die er sich erinnern kann.

Patrick Sammons schaut zum wiederholten Mal auf die Uhr und drängelt: will das Volk nicht endlich gehen? Gegen halb zwei wandern wir durch die Haustür hinaus.

* Guy St. John Williams, A Year in Connemara, Daletta Press, Monasterevan, Co Kildare, ISBN 0-9534389-0-2.

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Montag, 7. Juni 1999

Bank Holiday in Irland, aber die meisten Clifdener Läden haben geöffnet. Nur nicht die Post, doch Briefmarken gibt es auch im Tourist Office – und als Zugabe eine recht grobe Connemara-Karte, für die wir keine Verwendung haben. Auch der Clifden-Bookshop hat geöffnet; ich entdecke ein neues Buch über die Blasketinseln und eine kleine Geschichte der irischen Sprache.

Clifden RailwayDer Bahnhof von Clifden: wer hier auf den Zug aus Galway wartet, kommt mittlerweile 64 Jahre zu spät. Am 27. April 1935, es war ein Sonnabend, verließ der letzte Personenzug Clifden. Die Pfeife blies, an den Bahnübergängem gingen Knallkapseln hoch und entlang der Strecke standen die Menschen, der Bahn ein Lebewohl zu sagen. An jeder Station wurden weitere Wagen angehängt, und als der Zug in Galway einlief, war er lang und eindrucksvoll wie nie zuvor. Wer mehr wissen möchte, findet dies in einem kleinen Heftchen, das Kathleen Villiers-Tuthill für das Station House Hotel zusammengestellt hat und dem das obige Foto entnommen ist.

Inzwischen ist nach Jahrzehnten des Dornröschenschlafs die Restaurierung des alten Bahnhofsgebäude abgeschlossen, das nun ein Restaurant und einen Pub beherbergt. Auf den Bänken des früheren Bahnsteigs sitzt man unter alten Stations- und Hinweisschildern in der Sonne und blickt über die in dem neuen Pflaster verbliebenen alten Gleise. Die Bahnlinie endete hier, und sie münden in einen Lokschuppen rechts von uns, der gleichfalls restauriert wurde und ein Museum beherbergt. Leider kein Eisenbahnmuseum, sondern eines über die Geschichte der Ponyzucht in Connemara.

*  *  *

Es wird Nachmittag. Wir waren am Glassilaunstrand, hatten dort im Windschatten eines Felsens gesessen, uns mit dem Meer unterhalten, ein wenig geträumt und sind wieder zu Hause. Ein Rotkehlchen kommt ins Cottage gehüpft. “An-bhlasta, sehr lecker”, meint es, pickt ein paar Krümel vom Boden auf, dreht sich gelassen um und hüpft wieder hinaus. Wir folgen ihm, nehmen zwei Stühle mit und sitzen bei einer Tasse Kaffee vor dem Cottage und beobachten das local business auf der Dorfstraße. Wer kauft bei Brian ein, wer tankt an seiner vorsintflutlichen Zapfsäule? Ist das nicht George, der da ins Paddy Coyne’s geht und kommt da nicht Charlie aus dem Angler’s Rest? Wir winken und Charlie winkt zurück. Und schon ist auch das Rotkehlchen wieder da. “Nicht ins Cottage”, warnt mein Mädchen, “du findest nicht wieder raus!” “Ich doch nicht”, piept das Rotkehlchen auf Gälisch und hüpft über die Schwelle. Nach einer Weile folgt ihm mein Mädchen, findet es auf einer Stuhllehne nach weiteren Krümeln Ausschau haltend. Vielleicht sollten wir mal ausfegen.

*  *  *

Am Abend sitzt neben uns in der Central Bar ein verliebtes Pärchen aus Cork, das perfekt Irisch spricht. Johnnie ist begeistert und lässt seine Fiddle erstmal liegen. Unsereiner versteht (fast) kein Wort. Macht nichts, Kieran auch nicht! Erst gegen halb zwei in der Früh fahren wir mit Johnnie nach Renvyle zurück.

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Dienstag, 8. Juni 1999

Nach dem Frühstück machen wir einen kurzen Abstecher nach Kylemore Abbey, fragen nach einer ‘guided tour’ durch die Victorian Gardens. “No Tours”, erfahren wir, denn die Gärten seien eine einzige Baustelle, da man begonnen habe die zerfallenen Glashäuser wiederaufzubauen. Man sei jedoch bereit, uns zu einem Sonderpreis von IR£ 1.50 pro Nase durch den Haupteingang zu lassen um die Gärten auf eigene Faust zu erkunden. Wir lehnen dankend ab, denn schließlich kennen wir einen (noch) unbewachten Hintereingang.

Doch das muss nicht heute sein, heute interessiert uns, was sich in den letzten zwölf Monaten in Leenaun getan hat. Zu unserer Erleichterung nicht viel: der Ort sieht noch fast genauso wie in dem Film The Field aus. Schön, dass das mehr als hundert Jahre alte Hotel am Ortseingang nach zweijähriger Restaurierung seinen Betrieb wiederaufgenommen hat. Lange stand zu befürchten, es würde zerfallen und schließlich abgerissen werden. Dabei fällt mir die Geschichte ein, die uns Johnnie gestern Nacht auf der Heimfahrt nach Renvyle erzählt hat, wohl nicht zum ersten Mal.

Seine Mutter und sein Vater kommen aus Mullaghgloss. Aufgrund gewisser Probleme mit der Obrigkeit zogen beide es vor, sich nach Schottland abzusetzen, wo sie sich trafen und heirateten. Nach Gründung des Freistaates kehrte sein Vater Mark zunächst alleine heim, 1923 folgte seine Mutter mit dem zweijährigen Johnnie und einem Säugling. In einer stürmischen Überfahrt ging es um Nordirland herum nach Ballina im County Mayo, dann weiter per Ponywagen über Westport nach Leenaun. Das Baby hatte Durst, und Johnnies Mutter Lena klopfte am Leenaun Hotel an und fragte nach etwas Milch. Der Manager des Hotels gab ihr nicht nur das; er lud sie ein ohne Bezahlung im Hotel zu übernachten, was ihm nie vergessen wurde.

So wurde die Reise erst am nächsten Morgen fortgesetzt. Zwar waren es nur noch wenige Meilen, aber der Bürgerkrieg wütete in Irland und manche, die kurz zuvor gemeinsam gegen die britische Besatzung gekämpft hatten, brachten sich im Streit um den Kompromiss mit Großbritannien gegenseitig um. Die traurigste Zeit in der Geschichte des Landes, wie Johnnie immer wieder betonte. Die IRA hatte die Brücke bei Lettergesh gesprengt, doch ein Mann trug die drei über den kleinen Fluss, so dass sie Mullaghgloss zu Fuß erreichten.

*  *  *

Von Leenaun aus machen wir noch einen Spaziergang am Killary Harbour entlang, einen unserer Lieblingswege, über den ich schon genug berichtet habe. Den Abend verbringen wir im Cottage, kochen, essen und genehmigen uns noch einen Whiskey.

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Mittwoch, 9. Juni 1999

Da wir gestern Abend ungewöhnlich früh ins Bett kamen, sind wir früh wach und es bietet sich ein längerer Ausflug an. Nördlich von Newport gibt es am Furnace Lough ein Salmon Research Centre, in dem man das Verhalten der Lachse erforscht. Auch Besucher sollen willkommen sein ...

Via Westport geht’s nach Newport, wenn auch nicht so schnell, wie man es beschreibt. Beeindruckend der große Viadukt vor Newport, über den einst die Eisenbahn von Westport an den Achill Sound führte. Die Geschichte der 43 km langen Strecke liest sich ähnlich wie die der Great Western Railway von Galway nach Clifden: Um die Jahrhundertwende eröffnet, wurde sie bereits 1937 wieder stillgelegt, und auch das Metall ihrer Schienen soll nach Deutschland verhökert und in Form deutscher Bomben nach Irland zurücktransportiert worden sein. Ob nach Dublin oder Belfast, das bleibt offen.

Auch wenn wir in Newport nicht anhalten, scheint es uns ein sympathisches Städtchen zu sein, und der Hinweis in einem Reiseführer, der Ort hätte nicht viel zu bieten, macht ihn umso interessanter. Doch wir wollen die Lachse erforschen und fahren weiter. Wir finden die Forschungsstation auch, doch ...

Für die Öffentlichkeit nicht zugänglich!

... lesen wir auf einem Aushang. Der Besucherandrang der letzten Jahre sei größer als erwartet ausgefallen, die kleinen Fischchen hätten sich gestört gefühlt, und so habe man das Besucherzentrum wieder geschlossen. Hier werden Junglachse mit größerer Überlebensrate als in freier Natur aufgezogen und zur Stärkung der Population ins Meer entlassen. Doch wer weiß, vielleicht landen sie dann irgendwann in der Räucherei unseres Bretonen in Clifden und auf unseren Tellern. “Die armen Tiere”, seufze ich, “... vielleicht sollten wir keinen Lachs mehr essen.” Mein Mädchen guckt mich böse an.

Achill from Blacksod, © P. GuilfoyleWas nun? Ganz so interessant wie auf unserer Karte sieht die Gegend nicht aus. “Wollen wir nicht nach Achill Island fahren?” Gesagt, getan. Zum letzten Mal waren wir vor sechs Jahren auf der Insel, die als solche kaum zu erkennen ist, denn eine Brücke führt über den schmalen Sund. Auf der Insel passieren wir eine Beerdigung. Die Garda passt auf, doch ein kleiner Junge reißt sich los und scheint es darauf anzulegen, gleichfalls beerdigt zu werden. Einige Meilen weiter in Dumha Eige wollten wir eigentlich einkehren und einen Imbiss einnehmen, doch im Dorfpub ist für die Beerdigungsgesellschaft gedeckt. Da will man nicht stören.

An Caol oder Keel, der Hauptort der Insel, sieht vom Strand aus ganz hübsch aus, doch das ändert sich beim Näherkommen. Am Ortseingang hat der ‘Bungalow-Blitz’ eingeschlagen. Unter ‘Blitz’ versteht man im Englischen ein Bombardement, nur sind hier Streu-Bungalows statt Streubomben gefallen. Dennoch finden wir einen netten Pub mit erstklassigen getoasteten Sandwichs. Neben uns ein Paar aus Malta, das Urlaub auf der grünen Insel macht. Vermutlich ist den beiden ihre eigene Insel zu warm und trocken. Bei einem Besuch dort trafen wir im Februar ’95 einen Engländer, dem man hier im County Mayo echten schwarzgebrannten Poitín kredenzt hatte. Vielleicht war er auch nur ein besserer Geschichtenerzähler als wir, die wir andachtsvoll seinen Worten lauschten.

Über zuviel Sonne muss man heute nicht klagen. Ein grauer, ruhiger Tag, wie wir nun auf den Klippen der Ashlean Bay stehen, aber die Luft ist mild. Vor uns im Süden und viel näher scheinend, als der Karte nach erwartet, ragt Clare Island aus dem Wasser, die Insel Gráinne Ní Mháilles. Nur ihren Wehrturm kann man nicht sehen, der liegt hinter dem Berg auf der anderen Inselseite.

Da neben uns gerade ein irischer Opel-Fahrer seinen Wagen verlässt, befragen wir ihn ob eines Phänomens, das uns an unserem Leih-Corsa beunruhigt. Es handelt sich um eine Kontrollleuchte mit einem ‘Elektrizitätssymbol’, die schon seit Tagen immer wieder aufleuchtet, mitunter auch für längere Zeit. Ob dies wohl gefährlich ist? Im Prinzip ja, erklärt uns der Opel-Spezialist. Laut Handbuch – er hat eines – weise dies auf ein schwerwiegendes Problem in der elektrischen Anlage hin und bedeute, man solle sofort eine Werkstatt aufsuchen. Sollte es einem jedoch gelingen, und da spreche er aus eigener Erfahrung, mit einer solchen leuchtenden Warnanzeige mehr als 50 Meilen zurückzulegen, ohne dass der Wagen stehen bleibt, läge der ‘schwerwiegende Fehler’ in einem Defekt der Warnanzeige selbst – jeder zweite neu zugelassene Opel habe ihn. Das beruhigt, und so überklebe ich die nervige Anzeige mit einem Stück Pflaster.

*  *  *

Am späten Nachmittag fahren wir via Westport nach Renvyle zurück, und am Abend erwarten uns unsere Freunde in der Central Bar in Clifden.

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Donnerstag, 10. Juni 1999

Nach dem Frühstück wird die Waschmaschine angeworfen, dann starten wir den Versuch, einen weiteren Gipfel unseres Tully Mountain zu bezwingen. Über den Aufstieg habe ich bereits im vergangenen Jahr* berichtet, nur die ‘red spots’, die ihn im unteren Teil markieren, sind kaum noch zu erkennen. Doch die brauchen wir schon längst nicht mehr.

Wo der Trampelpfad auf den Bach stößt, setzen wir uns und lassen den Blick über den Ballynakill Harbour schweifen, aus dem sich ein ‘Fischkutter mit Anhänger’ langsam in Richtung offenes Meer bewegt. Was er genau hinter sich herschleppt, bleibt uns ein Rätsel. Fairies’ Gate, Feentor, haben wir die Stelle getauft. Es ist wichtig hier eine Rast einzulegen, um den Feen weiter oben am Hang die Möglichkeit zu geben sich auf menschlichen Besuch einzurichten und dezent zurückzuziehen. Manch einer, der sich nicht daran gehalten hat, hat sich über dem schwingenden Springseil zweier Feenkinder den Knöchel gebrochen und dies in der Galwayer Universitätsklinik mit dem Hängenbleiben an einem Heidebusch erklärt.

Der Hang ist trockener als in den vergangenen Jahren, und nach einer weiteren Rast auf halber Höhe blicken wir zur anderen Bergseite auf die Renvyle-Halbinsel hinunter, rechts von uns weitere Vorgipfel des Tully Mountain. “Auf zu neuen Ufern”, sage ich, doch irgendetwas passt nicht an dem Spruch. Also wandern wir den Grat entlang und erklimmen den nächsthöheren Gipfel, den ein Steinhaufen von Menschenhand krönt. Jeder Wanderer, der bis hierhin gekommen ist, fügt ihm einen Stein hinzu. Da wollen wir nicht nachstehen, auch wenn unsere Steine nicht die größten sind. Im Osten unter uns jetzt Lough Tully mit Heather Island, weiter hinten Tully Cross, deutlich zu erkennen die Kirche und die Reetdächer der Cottages.

Im Windschatten eines Felsens genießen wir die Aussicht bis nach Mayo hinüber. “Der Zuckerhut dahinten, das ist der Croagh Patrick”, meint mein Mädchen. “Ob wir ihn in diesem Jahr wieder nicht besteigen?”

*  *  *

Es wird Nachmittag. Während wir außer Haus waren, hat die Waschmaschine ihre Arbeit verrichtet, und wir hängen hinter dem Cottage die Wäsche auf. Plötzlich ist das Rotkehlchen wieder da, setzt sich zwischen die Unterwäsche auf die Leine. “Schaut mal, wie gut ich wippen kann!”

*  *  *

Während im Westen geht die Sonne untergeht, fahren wir über die schmale, holprige Lettergesh Road nach Leenaun. In Mullaghgloss ist Johnnie zugestiegen, auch er will bei der Eröffnung der Bar des Leenaun-Hotels dabei sein – schließlich sind seine Söhne heute Nacht für die Musik engagiert und Kieran hat bei der Restaurierung des Gebäudes mit Hand angelegt.

Wir passieren Lough Muck, den ‘Schweinesee’, und Lough Fee, an dem einst der junge Oscar Wilde seine Angel auswarf. Sein Vater William, ein Dubliner Augenarzt, besaß hier ein Sommerhaus. ‘A Father of Some Importance’, ein Vater von gewisser Bedeutung, lautet ein Artikel über ihn, der vor einiger Zeit im Journal der Clifden & Connemara Heritage Group erschien. So spiegelglatt, wie es platt klingt, der See, und die in unserem Rücken untergehende Sonne streift die Torfabstiche und lässt des Teufels Mutter im Osten aufleuchten.

Pier at Leenaun, © P. GuilfoyleDas Leenaun-Hotel steht vor dem Ortseingang, kurz hinter der Pier, an der seit Jahren das gleiche Schiff vor sich hinrostet. Die Bar ist bei unserem Eintreffen noch recht leer, und Johnnie lässt sich nicht davon abhalten, uns jedem ein Pint Guinness zu spendieren. Doch als die Musik beginnt, wird es rappelvoll und wir sind froh, rechtzeitig einen Hocker ergattert zu haben. Frank und Kieran sind in Hochform, selbst draußen in der Vorhalle lauschen die Leute. Johnnie jedoch ist nicht wegen der Musik gekommen. Er sitzt weit hinten an der Bar, trifft zig alte Bekannte, die er, wie er zwischendurch berichtet, seit Jahren nicht mehr gesehen hat.

Nachts gegen halb zwei fahren wir heim. Die Schafe sind von den Bergen gekommen und ruhen auf dem warmen Asphalt am Straßenrand, manche auch halb auf der Straße. Grün wie Katzenaugen an Markierungspfosten leuchten ihre Augen im Scheinwerferlicht. Ob sie mit offenen Augen schlafen? Vorsichtig kurven wir an ihnen vorbei, nach jeder Kurve auf neue treffend, unbeeindruckt von unserem Gefährt. Johnnie selbst hat keine Schafe, weiß aber von einem Farmer zu berichten, der alle Tiere seiner Herde erkennt ohne sie mit Farbflecken markieren zu müssen. Flunkerei? Wir wissen es nicht, denn ein ‘großer Lügner’ zu sein gilt hier eher als Lob. Vor seinem Haus in Mullaghgloss setzen wir ihn ab. Hinter einem Fenster leuchtet noch Licht: das Zimmer eines Sohns, der vor einiger Zeit ausgezogen ist – und nun 500 m weiter oben am Hang wohnt. Oíche mhaith, gute Nacht, Johnnie.

* siehe 16. Juni 1998

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Freitag, 11. Juni 1999

Ein Ausflug nach Westport. Wir lassen uns von Gisela mitnehmen – ihr ist die sporadisch an unserem Armaturenbrett aufflackernden Warnleuchte trotz der vorgestrigen Auskünfte auf Achill Island nicht ganz geheuer.

So richtig vorgenommen haben wir uns nichts: ein bisschen Shopping, gucken, was es zu gucken gibt, und dazu gehört ein Besuch in der Buchhandlung an der Bridge Street. Und da steht in Leinen gebunden und in einer Leinenkassette hoch über der Kasse P. W. Joyces dreibändiges Standardwerk ‘Irish Names of Places’, ein Facsimile Reprint aus dem Jahr 1913. Genau die Ausgabe, die man im Februar in Dublin gesehen und ob ihres Preises von 75 Pfund nicht zu kaufen gewagt hat.

Doch nun bekommt man sie von seinem Mädchen geschenkt – man hatte kürzlich Hochzeitstag, den zwölften. Und während man sein Geschenk in einer Plastiktüte aus dem Laden trägt, trägt sie das ihre unverpackt um den Hals.

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Reiseberichte Irland: Connemara 1999
© 2001 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 18.07.2006