angsam begann es zu dämmern. Es war düsterer Novemberabend, ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und die feuchte Kälte drang mir bis in die Knochen. Die Lichter der nahen Stadt verloren sich im dichten Nebel, der alle Geräusche zu verschlucken schien.
Ich war auf dem Weg nach Hause, eine junge Frau von knapp 18 Jahren, die seit drei Monaten durch Irland reiste. Da ich Friedhöfe liebe, hatte ich mich entschlossen, den Weg entlang der Grabstätten eines sehr alten Friedhofs zu nehmen. Geschichten verlorener Leben wurden von verwitterten Grabsteinen erzählt. Ich war alleine auf dem Friedhof, vergaß Raum und Zeit. Langsam und tief in Gedanken versunken setzte ich einen Fuß vor den anderen und kam schließlich zu einem großen, für Irland eher ungewöhnlichem Grab. Es glich mehr einer Gruft, und ein großer Grabstein lag auf dem Boden. Die Inschrift ließ sich nicht mehr lesen, Wind und Wetter hatten sie schwinden lassen.
Plötzlich riss mich ein schleifendes Geräusch aus meinen Träumen. Hatte sich da nicht eben dieser alte Grabstein bewegt? Ich scheuchte den Gedanken fort, wie eine lästige Fliege, und war wollte gerade weitergehen, als das Geräusch noch einmal zu hören war, diesmal ganz klar. Wie versteinert blieb ich stehen. Der Grabstein vor mir bewegte sich tatsächlich. Ich hielt den Atem an. Dann öffnete sich das Grab. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich mich nicht mehr bewegen. Da stand ich nun an einem düsteren Novemberabend des Jahres 1980 auf einem Friedhof irgendwo in Irland und fühlte mich sehr allein.
Aus dem Grab stieg ein alter Mann. Sein Haar war weiß und wild, doch seine Augen blickten schelmisch und sein Mund lächelte verschmitzt. Er trug eine abgetragene Hose und einen Kittel, der seine besten Tage lange hinter sich hatte. Er stand da und sah mich an. Plötzlich verwandelte sich sein Lächeln in ein schallendes Lachen. Das war nun wirklich zuviel. Ich wollte schreiend davonrennen, doch meine Füße schienen mit dem Boden verwurzelt zu sein und kein Ton kam aus meinem Mund. Ich starrte auf den lachenden alten Mann und begann langsam aber sicher an mir zu zweifeln. Der Mann schien die Situation zu genießen, hielt mir dann die Hand hin und sagte: „Ich bin nicht tot und auch kein Geist. Ich wohne in diesem Grab, schon seit vielen Jahren, und habe mir meine Wohnstätte ganz gemütlich eingerichtet. Willst du nicht eintreten und eine Tasse Tee mit mir trinken? Weißt du, es ist recht friedlich auf diesem Friedhof. Tagsüber habe ich hin und wieder unverhofften Besuch, und nachts traut sich niemand hierher. Und wenn ich einmal sterbe, muss ich für keine Beerdigung zahlen und kann in meiner Wohnung bleiben bis an das Ende dieser Zeit.“
Irgendwann erwachte ich aus der Erstarrung. Das Leben kehrte in mich zurück, und ich holte tief Luft. Der Mann vor mir war vertrauenswürdig und liebenswert. Keine Gefahr schien von ihm auszugehen und er wirkte lebendiger als mancher, den ich bis dahin in meinem jungen Leben getroffen hatte. Ich reichte ihm die Hand und stieg für eine Tasse Tee in sein Grab. Es war gemütlich eingerichtet. Da stand eine kleine Pritsche mit bunten Kissen, ein Tisch mit einem Stuhl und in einer Ecke ein kleiner Kocher. Bücher lagen aufgestapelt auf dem Boden. Eine kleine Gaslampe verbreitete ein warmes Licht. Wir hatten eine angeregte und vergnügte Unterhaltung und tranken genüsslichen eine Tasse süßen Tee. Nach einer Weile machte ich mich lächelnd und unheimlich berührt auf den Heimweg. Noch heute denke ich manchmal an den Mann im Grab zurück. Ich werde ihn nie vergessen.
© 2009 Marie Louise Lagger / Lektorat JK