Irisches Tagebuch 2018

Shit happens!

 

Sonnabend, 4. Juni 2018

Brief von Eileen Óg an Nis Puk

Moin Nis — In Ros-a-Mhíl haben wir uns auf eine Fähre begeben und über den stürmischen Atlantik gewagt. Jan Hinrich sieht mir gerade über die Schulter fragt, ob ich da nicht ein bisschen übertreibe. Ich weiß gar nicht, was er meint, doch wie auch immer: gegen Mittag sind wir auf Inis Mór gelandet. Von dieser Insel aus hatte vor mehr als tausend Jahren mein Vorfahre Brendan-the-Navigator den Atlantik überquert und Amerika entdeckt. Da wir mit Amerika aber nichts im Sinn haben, bleiben wir vier Tage auf Inis Mór und fahren dann wieder ins Cottage zurück.

Cill Rónáin, © 2018 Hildegard Vogt-Kullmann

Ard Mhuris heißt das Haus in Cill Rónáin, in dem wir wohnen. Das ist der Hauptort der Insel, den man auch oben auf dem Foto sieht. Das Zimmer ist nicht besonders groß, doch Jan Hinrich und ich haben einen schönen Platz auf der Fensterbank, von wo aus man aufs Meer schauen kann. Jan Hinrich will heute Nacht aufpassen, ob Schwarzbrenner Poitín aufs Festland bringen. Schwarzbrenner und Schmuggler haben es ihm angetan.

Deine Huuslüüd waren schon zweimal auf Inis Mór, einmal im letzten Jahrtausend und einmal zu Beginn dieses Jahrhunderts, aber jeweils nur für einen Tag. Bis jetzt haben wir tolles Wetter, auch wenn einer meiner Mitreisenden Wolken für seine Fotos vermisst. Nachdem sie sich in unserem Leaba-agus-Bricfeasta (hier spricht man Irisch) eingerichtet hatten, sind deine Huuslüüd zum Dún Dúchatair, dem ‘schwarzen Fort’, gewandert. Das liegt ungefähr fünf Kilometer südlich von hier auf einem Berg. Da hatten sie ihre Ruhe vor all den anderen Touristen, die sich vom Schiff aus in Pferdekarren zu einem Fort im Nordwesten kutschieren ließen, das Dun Aengus heißt. Das schwarze Fort, das auf einer von vielen Felszungen liegt, kannten sie von früher her. Im Westen fallen die Felsen steil ins Meer ab, und damit sie mal andere als immer nur langweilige Sonnenfotos machen konnten, hatte Booh! ihnen ein paar Nebelschwaden herbeigespukt.

Dún Dúchatair, © 2018 Jürgen Kullmann

Sehr steinig ist es da oben auf dem Berg, und zwischen den Steinplatten zwängen sich immer wieder Blumen durch. An einer Stelle steht zum Gedenken an einen jungen Mann, der vom Felsen gefallen ist, eine Bank. Solche Gedenkbänke haben wir auch schon auf anderen Inseln gesehen. Sie sind praktisch zum Rasten, doch dass bei den Menschen immer erst einer vom Felsen fallen muss, bevor jemand eine Bank aufstellt, ist doch etwas viel verlangt.

*   *   *

There is a bar in Cill Rónáin
And whether you’re local or blow-in,
Come in for the food
For the music and mood,
For Watty’s will end all your moaning.

Wer das Gedicht verfasst hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich ein berühmter Mensch, denn der Pub, der sich Tí Joe Watty’s nennt, macht Werbung damit. Auch deine beiden Huuslüüd sind dort reingegangen, haben vorher aber noch die mobile Tourist Craggy Island Tourist Info © 2018 Jürgen KullmannInfo von Craggy Island fotografiert, die auf der anderen Straßenseite steht. Craggy Island ist die Insel von dem berühmten Father Ted, aber das ist eine andere Geschichte.

Das ist alles für heute. Viele Grüße an Paddy-the-Sailor und das Kleine Volk von

Eileen Óg und Jan Hinrich”

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Dienstag, 5. Juni 2018

Brief von Eileen Óg an Nis Puk

Moin Nis — Ich setze meinen Bericht von gestern fort, denn mir schwant, dass es mit der wahrheitsgemäßen Buchführung sonst nicht klappen wird. Wie ich ihn einschätze, wird der Verfasser unseres Reisetagbuchs von sich aus nicht erwähnen, dass er gestern Abend, während er durchs Objektiv statt auf seine Füße schaute, über eine Stufe stolperte und sich längs hingelegt hat. Jetzt sind sein linkes Knie und seine linke Schulter blau-grün-gelb gefärbt, sein rechter Ellbogen verpflastert und der linke kleine Finger dick. Vom Objektiv ist die Sonnenblende, mit der das Ding am Boden aufgestoßen ist, kaputtgegangen. Doch die kann man neu kaufen, wahrscheinlich hat sie das Objektiv gerettet. Menschen können ja so was von schusselig sein!

Heute humpelt der Tollpatsch ein wenig, vor allem wenn er Stufen hinuntergeht. Aber Radfahren kann er, und so haben sich meine Mitreisenden Fahrräder geliehen, um auf ihnen die Insel zu erkunden. Das Wetter ist grandios. Die beiden sind die Küste entlang zu einem alten Fort gefahren, das vor ein paar tausend Jahren auf Felsen über dem Meer errichtet wurde. Es heißt Dun Aengus. Unterwegs wurden wir mehrmals von Pferdekarren Public Transport on Inis Mór © 2018 Jürgen Kullmannüberholt, die die Touristen vom Hafen zu dem Fort bringen, das in den Reiseführern als größte Attraktion der Insel angepriesen wird.

Auf halbem Wege machten deine Huuslüüd einen Abstecher zur Kirche des Heiligen Kieran, die links oben am Hang lag. Sie hat kein Dach mehr, war ihnen aber für ein Foto gut genug. Dann tauchten rechts unterhalb der Straße die Giebel der Seven Churches auf. Die hatten auch keine Dächer mehr, und ein Schaf, das zwischen den Mauern weidete, hat mir verraten, dass die Zahl Sieben überhaupt nicht stimmt. Es waren eigentlich nur zwei Kirchen, und die anderen Mauerreste stammen von Gebäuden, in denen im frühen Mittelalter die Mönche mit ihren Frauen gewohnt, Bier gebraut und andere fromme Dinge getan haben. Da haben deine Huuslüüd erneut ihre Kameras ausgepackt.

Seven Churches, © 2018 Jürgen Kullmann

Man hat den Eindruck, dass reisende Menschen von kaputten Bauwerken – sofern sie nicht drin wohnen müssen – nur so schwärmen. Ein deutscher Fürst *, der irgend so’n Eis erfunden hat und zwei Jahre lang England und Irland bereiste, schrieb mal in einem Brief nach Hause, dass nichts die Landschaft so aufwertet, wie eine gut gepflegte Ruine. Die Fotografen von heute scheinen das auch so zu sehen.

Anschließend sind deine Huuslüüd zu dem Dorf geradelt, in dem der Trampelpfad zum Dun-Aengus-Fort beginnt – Entschuldigung, das war jetzt doppelt gemoppelt, den Dun heißt ja Fort. Dort hat jeder von ihnen ein Eis verspeist. Zu den alten Mauern wollten sie dann nicht mehr hoch; es liefen ihnen da zu viele andere Zweibeiner herum und außerdem waren sie im letzten Jahrtausend schon mal dort. Auf dem Rückweg haben wir an einem Aussichtspunkt den Seehunden im Meer zugewunken und ihnen schöne Grüße von Oscar ausgerichtet.

* Siehe: Hermann Ludwig Heinrich von Pückler-Muskau, Reisebriefe aus England und Irland 1836–37, Band 2. Aufbau Verlag, Berlin 1992 [zurück]

*   *   *

Mich selbst interessieren alte Mauern nicht so sehr, außer es wohnen Gespenster drin. In den Ruinen, die wir bis jetzt besichtigt haben, waren keine, dafür aber im Tí Joe Waddy’s, so heißt der Pub, in dem deine Huuslüüd auch heute Abend wieder gegessen und der Musik gelauscht haben. Es war ein kleiner alter Mann in einem feinen, fast weißen Anzug und einer gelben Rose im Knopfloch. Unter der Jacke trug er eine beige Weste und eine gelbe Krawatte, und auf dem Kopf hatte er einen Strohhut. Jeden Abend erscheint er zur gleichen Zeit und im gleichen Aufzug in der Tür, geht langsam durch den Raum zur Bar, legt den Hut neben sich auf die Theke und kriegt einen Drink spendiert.

Deine Huuslüüd haben sich angesehen und gefragt, was das wohl für ein seltsamer Typ ist, doch mir war gleich sonnenklar, dass es sich nur um den Geist von Auld Joe, handeln konnte, der den Pub vor 200 Jahren gegründet hat und jetzt jeden Abend nachschaut, ob noch alles in Ordnung ist.

So viel für heute. Mit vielen Grüßen an Paddy-the-Sailor, Oscar und das Kleine Volk von

Eileen Óg und Jan Hinrich”

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Mittwoch, 6. Juni 2018

Brief von Eileen Óg an Nis Puk

Moin Nis Puk — Nein, du musst dir keine Sorgen machen! Auch wenn ich dir gestern schrieb, dass deine Huuslüüd von den Ruinen hier ungemein angetan sind, haben sie nicht vor, aus deinem Huus eine zu machen. Ganz im Gegenteil! Wie ich aus gut unterrichteten Kreisen erfahren habe, kriegst du, wenn wir im August wieder in Tönning sind, fünf schöne neue Fenster, natürlich mit einem runden Bogen, so wie es sich gehört.

Auch heute waren deine Huuslüüd auf ihren geliehenen Drahteseln unterwegs. Nachdem sie gestern den Westen der Insel erkundet hatten, waren sie heute im Osten von Inis Mór und sind zu einer alten Festung hochgefahren, die Dun Eochla heißt. Was sie halt so ‘fahren’ nennen, denn eigentlich haben sie die Räder hochgeschoben. Der Himmel war grau und verhangen, so dass sie nur wenige Fotos gemacht haben. Das Fort soll um die zweitausend Jahre alt sein, ganz genau weiß man das nicht. Es steht auf der höchsten Erhebung der Insel und ist in einigem Abstand von einer mehr oder weniger runden Mauer umgeben. Wie mir scheint, hat die Menschheit das solide Bauen seither verlernt, denn was sie heute hochziehen, ist nach einem halben Jahrhundert meist schon wieder kaputt. Von deinem Huus in Tönning abgesehen, versteht sich.

An Trá Mór, Inis Mór, © 2018 Jürgen KullmannSpäter kam die Sonne raus, und deine Huuslüüd sind auf ihren Fahrrädern den Berg zum Meer hinunter gerollt und an der Wasserkante entlang zum Trá Mór gefahren. In deiner Sprache heißt das Groter Strand. Dort gibt es einen alten Friedhof mit keltischen Kreuzen und einer halb in den Dünen versunkenen Kirche. Vor der Ruine steht ein Grabstein für eine Frau, die 105 Jahre alt geworden ist. Die Deern hat sich auf eine Grabplatte gesetzt und Aquarellskizzen gemacht, ‘Skribbeln’ nennt sie das, und ihr Begleiter die Kirche und dem Grabstein fotografiert. Manchmal humpelt er ein bisschen, aber es scheint seinem Knie besser zu gehen. Die kaputte Sonnenblende vom Objektiv hat er wie schon sein Knie mit Heftpflaster zusammengeflickt.

Als sie auf dem Rückweg an einer Mauer vor einem kleinen Schiffsanleger Rast machten und ein neues Bild skribbelten, kam ein Mann vorbei, mit dem sich die Malerin unterhielt. Sich mit fremden Leuten zu unterhalten, gehört zu ihren starken Seiten. Da ist sie so wie ich, während ihr Begleiter eher von der schweigsamen Art ist. Der Mann erzählte, er sei auf dem Weg zum Flugplatz. Wegen seinem Job könne er nicht auf der Insel wohnen, komme aber mindestens einmal im Monat rübergeflogen. Dann zog er weiter, und eine halbe Stunde später sah man hinter den Dünen ein kleines Flugzeug aufsteigen.

Wie mir scheint, funktioniert das Fliegen hier besser als anderswo. Wenn wir bei unserer Anreise dreißig Minuten vor dem Abflug in Düsseldorf mit einer Malerin am Straßenrand geplaudert hätten, wären wir nie in Irland angekommen.

*  *  *

Cill Rónáin, © 2018 Jürgen Kullmann

Wir sind wieder in Cill Rónáin. Die Sonne geht unter, und wir wandern vorbei an der Kirchenruine auf dem Hügel ins Tí Joe Watty’s, wo es heute Abend nicht nur etwas zu essen, sondern auch Musik gibt. Pünktlich wie immer erscheint in seinem weißen Anzug der Hausgeist und geht zur Bar, doch etwas stimmt dieses Mal nicht. Der Mann hinter der Theke merkt es sofort: es fehlt die gelbe Rose an seinem Revers. Kurzerhand geht er nach hinten, kommt mit einer zurück und gibt sie dem Geist. Der steckt sie in das Knopfloch und die diesseitige und jenseitige Welt sind wieder in Ordnung.

Dann beginnen die Musiker eine irische Melodie zu spielen. Der Geist blickt auf, tritt auf eine Frau zu, nimmt seinen Hut in die Hand und verbeugt sich tief vor ihr, wie man es vor zweihundert Jahren zu seinen Lebzeiten gemacht hatte. Dann fordert er sie zum Tanz auf. Erst will sie nicht; es gibt da ja so schreckliche Geschichten, was passiert, wenn man mit einem Geist tanzt. Dann lässt sie sich aber überreden, und alle klatschen Beifall. Es passiert auch nichts Schlimmes, denn es war ja ein netter Geist und nicht wie vor 200 Jahren in Hoyerswort der Teufel, der um den Tanz gebeten hatte.

So viel für heute. Mit vielen Grüßen an das Kleine Volk von Tönning von

Eileen Óg und Jan Hinrich”

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Mittwoch, 7. Juni 2018

Brief von Eileen Óg an Nis Puk

Moin Nis Puk — Seit heute Nachmittag sind wir wieder in unserem Cottage in Tullycross. Beim Frühstücken und Verabschieden hatten deine Huuslüüd versucht, mit unserer Landlady ein bisschen auf Irisch zu schnacken. Viel kam dabei nicht heraus, aber die Landlady hat sich gefreut. Sie interessiert sich für fremde Sprachen und versteht ein bisschen Deutsch und Italienisch. Beides seien sehr schöne Sprachen, sagte sie, ganz im Gegensatz zu Französisch, das einfach nur ‘terrible’ sei. Sie verzog das Gesicht und schüttelte sich. Früher habe sie Deutsch ganz gut sprechen und verstehen können, erzählte sie weiter, doch als ihr Sohn vor zwanzig Jahren starb auf einem Schlag fast alles verlernt. Nur das mit Lesen würde heute noch klappen.

Beim Frühstück saß an einem Tisch in der Ecke ein nettes junges Mädchen, das alleine und ohne Auto quer durch Irland reiste und gut Irisch konnte. Ein paar Sätze, mit denen sie nicht klarkam, hat sie sich von unserer Landlady erklären lassen. Auf dem Weg zum Hafen kam sie uns eine halbe Stunde später auf einem Fahrrad entgegen, und eines kann ich dir sagen: diese Deern fuhr in einem anderen Tempo den Berg hoch als gestern deine Huuslüüd. Sie stoppte, und die beiden Mädels haben sich unterhalten, während der mit dem verpflasterten Knie ein paar Fotos machte, unter anderem von der Post und dem imposanten Bau der Bank of Ireland:

Cill Rónáin, © 2018 Jürgen Kullmann

Cill Rónáin, © 2018 Jürgen Kullmann

Über die Fahrt mit der Fähre aufs Festland zurück gibt es nichts Besonderes zu berichten; mit einem Navigationsschaf wie mich an Bord, was soll da schon schiefgehen? Gegen halb drei waren wir wieder in Tullycross. Weil das Wetter so schön war, haben deine Huuslüüd dann noch einen kleinen Spaziergang gemacht, den ‘Friedhofsweg’ wie sie den Rundweg nennen, weil an der Kehre der Friedhof von Mullaghgloss liegt, auf dem ihr Freund Johnnie begraben liegt. Du weißt schon, ‘the famous fiddler of the Irish Highlands of Mullaghgloss’.

So, das war es, was ich über unsere Expedition nach Inis Mór zu berichten hatte, jetzt kann mal ein anderer zum Schreibstift greifen. Mit schönen Grüßen an dich und die anderen vom Kleinen Volk in uns Huus.

Eileen Óg und Jan Hinrich”

Der Chronist fährt fort

Das war ja nett, dass mir unser Reise- und Navigationsschaf Eileen Óg das Schreiben in den letzten Tagen soweit abgenommen hatte, dass ich mich der Pflege meines vielfarbigen Knies, des blauen Fußgelenks und eines leicht geschwollenen Fingers widmen konnte. Inzwischen ist die Schwellung zurückgegangen, und ich kann den Schreibstift wieder übernehmen.

Es ist früher Abend, ich sitze vorm Cottage und habe gerade das Gemüse fürs Dinner geschnibbelt. Es gibt heute Monkfish (ein Geschenk von Anne Jack) in einer Zwiebel-Weißwein-Senfsauce. Derweil spielen gegenüber vor der Maol Réidh Lodge zwei junge Musiker irische Weisen: real Irish life aus dem Bilderbuch.

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Freitag, 8. Juni 2018

Yesterday we were in America” sagte John Alcock dem verdutzten Operator der zwölf Jahre zuvor in Betrieb gegangenen ersten transatlantischen Funkstation, nachdem er am 15. Juni 1919 mit seinem Copiloten Arthur Whitten Brown im Moor von Derrigimlagh südlich von Clifden eine formidable Bruchlandung hingelegt hatte. Nein, es war kein dummer Witz, wie der Angestellte zunächst glaubte, sondern er war Zeuge des erfolgreichen Abschlusses des ersten Nonstop-Transatlantikflugs in der Geschichte der Menschheit. Grund genug für Tourism Ireland, Derrigimlagh Bog © 2018 Jürgen Kullmann einen Rundwanderweg über das Moor anzulegen, der streckenweise über die Trasse der damaligen Betriebsbahn führt und die Feuchtgebiete Moors auf Holzstegen überquert. Hier, ins Deutsche übersetzt, ein Ausschnitt aus einem Faltblatt des Tourist Office:

“Weniger als fünf Kilometer von Clifden entfernt liegt an der Straße nach Ballyconneely das Moor von Derrigimlagh, wo man zwei Stätten von internationaler und historischer Bedeutung besuchen kann. Folgen Sie dem ausgeschilderten Weg über das Flachmoor, ein überwältigendes Mosaik von Seen und Torfbänken. Als Erstes passieren Sie die verstreut liegenden Überbleibsel der weltweit ersten ständigen transatlantischen Funkstation.

Vor mehr als einem Jahrhundert vom italienischen Erfinder Guglielmo Marconi errichtet, sandte sie 1907 das erste Funksignal über den Atlantik. In ihrer Blütezeit waren hier mehrere hundert Menschen beschäftigt. Der Komplex wurde im irischen Unabhängigkeitskrieg zerstört, aber man sieht immer noch die weitläufigen Flächen mit den Fundamenten der Gebäude und Wohnhäuser der Arbeiter. Darüber hinaus werden Sie auf ein weißes kuppelförmiges Denkmal stoßen, das an John Alcock und Arthur Whitten Brown erinnert, denen 1919 als erste Piloten ein Nonstop-Flug über den Atlantik gelang, der mit einer Bruchlandung im Moor von Derrigimlagh endete.”

Wie man sich diese Bruchlandung vorzustellen hat und die Piloten dann mit der Feldbahn zum Haus des Chefingenieurs der Station gefahren wurden, ist auf zwei Informationstafeln am Wegesrand zu sehen:

Alcock and Brown Crash, © 2018 Jürgen Kullmann

Alcock and Brown, © 2018 Jürgen Kullmann

Audio-Informationen an halbüberdachten Info-Ständen entlang des Weges bringen Geräusche von technischen Anlagen, dem Crash des Flugzeugs, der Kleinbahn, den Vögeln auf dem Moor, nachgespielte Gespräche und ein Gedicht des irischen Literatur-Nobelpreisträgers Seamus Heaney über das Moor zu Gehör. Dazu ist die gewünschte Info auszuwählen, dann zirka zehnmal eine Handkurbel zudrehen, und schon geht’s los.

Als wir vor zwölf Jahren über das Moor wanderten, existierte hier nur ein Schotterweg. Zwar sah man vereinzelt Mauerreste in der Pläne, doch die meisten ordneten wir der Station gar nicht zu. Unter einer Funkstation hatten wir uns ein Gebäude mit einer Antenne vorgestellt, nicht aber ein so weitläufiges Gelände mit einer Vielzahl von Bauten und technischen Anlagen: einem Operator-Gebäude mit unter anderem 6.000 Batteriezellen, einen eigenem Kraftwerk mit zwei Dampfmaschinen und tonnenschweren Schwungrädern, Häusern zur Unterbringung von Arbeitern mit ihren Familien und separaten Häusern für die Ingenieure und dem Manager, und last not least einem Social Club.

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Sonnabend, 9. Juni 2018

Wir machen einen Ausflug nach Roundstone, genießen im Freien vor einem Pub eine ganz hervorragende seafood chowder zu water from the tap und einem dunklem Brot, das alle bisher gekosteten home made breads um Längen schlägt: aromatisch und saftig statt wie üblich trocken und krümelig.

Anschließend geht es ein Stück die Bucht entlang, der Weg, den wir im vergangenen Jahr vom Ervallagh Pier kommend aus der Gegenrichtung entdeckt hatten. Mien Deern will noch einmal die vor der Bucht gelegene kleine Insel Inishlacken skizzieren, auf der vor einem halben Jahrhundert drei Maler einen Sommer verbracht hatten. Ihr Buch darüber steht in unserer Bibliothek.

Unterwegs begegnen wir zwei altbekannten Kollegen: Bei einem Haus unten am Ufer den etwas Furcht einflößenden Hund mit dem Maulkorb, der zum Glück nicht mehr kann als uns zu beschnuppern, und dem stolzen Schafsbock mit den mehrfach gewundenen Hörnern, der von sich aus auf Abstand bleibt.

Bei Roundstone, © 2018 Jürgen Kullmann

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Sonntag, 10. Juni 2018

Wir haben den großen Rundwanderweg über unsere Halbinsel in einen kleinen verwandelt und wandern, nachdem wir den Hügel mit dem Funkmast überschritten haben, am Ende des Weges nach rechts zum Renvyle House hinunter.

Seit den 1820er Jahren gehörte das Anwesen einem Zweig des angesehenen Geschlechts der Blakes, das sich in den 1880er Jahren aus finanziellen Gründen gezwungen sah, das Herrenhaus in ein Guest House zu verwandeln. Im Jahr 1917 erwarb es der von James Joyce als Buck Mulligan verewigte Oliver St. John Gogarty, und kurz darauf kehrte bei ihm William Butler Yeats mit seiner frisch angetrauten Georgia ein, sehr interessiert an einen haunted room, von ihm sein Freund erzählt hatte. Hier, ins Deutsche übertragen, ein paar Zeilen aus einem Artikel, mit dem das Hotel Werbung für sich macht:

Gogarty war mit dem Dichter W. B. Yeats, dessen Frau zu jener Zeit ein bekanntes Medium war, gut befreundet. Bei ihren Aufenthalten schienen sich die übersinnliche Aktivitäten im Haus zu steigern. Eines Nachts unterhielt sich Gogarty mit seinen beiden Freunden in der Bibliothek, als sich plötzlich ganz von selbst knarrend die Tür öffnete. Yeats hob die Hand und rief: “Sitzen bleiben, was es auch ist, es wird gehen wie es gekommen ist”, und so schnell, wie sie sich geöffnet hatte, schlug die Tür pflichtgemäß wieder zu.

Yeats, fasziniert durch diese übersinnliche Aktivität, beschloss eine Seance abzuhalten, um herauszufinden, was der Geist wollte. Indem er die Hand des Mediums mit dem Federhalter lenkte, teilte der Geist mit, dass er im Haus keine Fremden leiden konnte, erklärte aber seine Bereitschaft, für Yeats Frau Georgia sichtbar zu werden.

Die ließ sich das nicht zweimal sagen, betrat das Spukzimmer ohne Begleitung, und beobachtete etwas, das sie als einen neben dem Kamin auftauchenden ‘feuchten Nebel’ bezeichnete. Aus diesem sei dann ein Junge von etwa 14 Jahren mit rotem Haar und einem fahlen Gesicht erschienen. “Auf ihm lag die feierliche Blässe einer Tragödie, die das, was ein Kind aushalten kann, überschritt”, berichtete sie ihrem Mann. Später erfuhr sie, das der Junge in der Tat einer von den Blakes war, denen das Anwesen einst gehört hatte.

Wandert man die lange Allee zu dem den Blicken noch verborgenen Renvyle House hinunter, passiert man rechterhand einen romantischen ‘Geheimen Garten’, derweil auf der anderen Seite der Allee, wie es scheint neu angelegt, ein über eine Holzbrücke führender Spazierweg zum See abzweigt. Wir biegen ab und sitzen jetzt auf einer Bank vor einem kleinen Felsen. Auf dem See gleiten in der Nachmittagssonne dicht beieinander die drei in Schwäne verwandelten Kinder des Königs Lir vorüber.

Hinter dem See glänzt, von diesem nur durch einen schmalen Landstreifen getrennt, das Meer, und unweit der Küste liegt – der Vergleich ist von Theodor Storm geklaut – wie träumend die Insel Crump Island auf dem Meer. Die Ruine einer Kapelle ist zu erkennen, in der sich vor einigen Jahren ein junges Paar von einem Druiden hat trauen lassen. Die Hochzeitsgesellschaft war uns bei einer Musikveranstaltung mit Frank und Charlie in der Bar des Renvyle House über den Weg gelaufen.

Doch die romantische Insel ist auch mit einem tragischen Ereignis verbunden. Nur wenig später ertrank ein junger Mann bei dem Versuch, im Sonnenuntergang schwimmend auf das verwunschene Eiland zu gelangen.

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Mittwoch, 13. Juni 2018

Eileen Óg an Nis Puk in Tönning

Moin Nis Puk — Shit happens, wie man hier so sagt. Drei Tage lang hat der Schreiber dieses Tagebuchs nun nichts mehr aufgeschrieben, und das macht er wohl auch für den Rest dieses ‘Urlaubs’ nicht mehr. Ich kann’s verstehen, es waren einfach zu dramatische Tage.

Galway University Hospital, © 2018 Hildegard Vogt-KullmannAm Montag ist sien Deern auf dem Weg zur Kapelle auf den Mám Ean Pass, den sie schon ein Dutzend Mal gegangen sind, auf Geröll ausgerutscht und hat sich einen Fuß so weh getan, dass sie nicht mehr laufen konnte. Da ist dann die Mountain Rescue gekommen, hat sie ins Tal getragen und von dort mit der Ambulanz nach Galway ins University Hospital gebracht, wo sie drei fractions im linken Fuß festgestellt haben. Am Dienstag haben sie sie operiert und jede Menge Metall (drei Platten und zwölf Schrauben) eingebaut, was aber wieder rausgeholt werden muss, wenn nach einem Jahr alles wieder zusammengewachsen ist. Das Foto hat sie mit ihrem Handy-Dingsbums vom Bett aus gemacht, damit man mal sieht, wie es im St. Finbar’s Ward aussieht. So hieß das Zimmer, in das sie nach der Operation kam, fünf Betten gab es da. Vor der Operation lag sie den ganzen Tag und die ganze Nacht über auf einem Wagen im Flur der Notaufnahme.

Zum Glück hat das Operieren ohne Komplikationen geklappt, so dass wir sie heute Nachmittag mit eingegipstem Fuß & Bein sowie zwei Krücken aus dem Krankenhaus abholen konnten. Mit Rumlaufen ist nun in den letzten Tagen unseres Urlaubs nichts mehr, doch sind wir glücklich und erleichtert, dass sie wieder hier ist. Bis rüber in den Pub wird sie es vielleicht schaffen, und hier im Cottage ist es ja auch schön. Es soll in den nächsten Tagen sowieso regnen und stürmen.

Die Leute im Dorf sind unheimlich nett und hilfsbereit. Anna will uns die Öl- und Stromrechnung für die drei Wochen erlassen, rund sechzig Euro waren das im letzten Jahr. Sie sagte, damit wir Irland trotz des Unfalls im nächsten Jahr eine neue Chance geben. Gerard, der Landlord vom Paddy Coyne’s, hat uns heute Abend kostenlos ein Dinner aus dem Pub ins Cottage gebracht: Fisch, Gemüse und auch noch einen Nachtisch, ganz lecker. Und dann haben uns Anne Jack und die Frau, die die Cottages immer sauber macht, besucht und versucht, die Deern ein bisschen aufzuheitern.

So war das also, und wie gesagt, shit happens. Wenn wir wieder in Tönning sind, erzähle ich mehr. Mit vielen Grüßen an dein kleines Volk von

Eileen Óg”
(Reise- und Navigationsschaf)

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Weitere Reiseberichte


Reiseberichte Irland: Connemara 2018
© 2020 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 27.02.20