Irisches Tagebuch 2004

Im dreizehnten Jahr

 

Sonnabend, 12. Juni 2004

Wir machen uns auf zum ‘Killary Walk’, Start beim Hostel an der Fjordmündung, in dem einst der Österreicher Wittgenstein vom Iren Flann O’Brien abschrieb. Er habe den hier verfassten zweiten Band von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen gelesen, schreibt Mike Harding in seinem Buch Footloose in the West of Ireland, und festgestellt, dass die meisten Argumente beim Iren geklaut wurden. So sei Wittgensteins Beweisführung zu ‘Wenn wir nicht hier wären, wären wir irgendwoanders’, direkt von Flann O’Brien übernommen. Der hingegen kam nur zum Angeln nach Rosroe und köderte mit Lammhaxen Riesenhaie.

Zudem muss Wittgenstein recht unglücklich gewesen sein, meint Mike Harding, und scheine außer herumzumaulen nicht viel getan zu haben. Über die enorme Anzahl von Ohrwürmern habe er sich beklagt und bei der Postmeisterin darüber gejammert, dass es in ihrem Laden zu wenige brauchbare Kriminalromane gäbe.

Killary Green Road, © Paul GuilfoyleWir philosophieren nicht, sondern wandern über die Green Road, wie sie Paul Guilfoyle in seinem Bild nennt, fjordeinwärts, steigen hinter der ‘Half-Way-Mauer’ rechts den Hang hoch und wandern über den Salrock-Pass zurück. Doch all das habe ich schon früher beschrieben*. Ein hinreichend kurzer Weg, um meinen neuen Wanderschuhen noch eine Chance zu geben, von denen mir der rechte bereits auf dem Düsseldorfer Flughafen die Hacke wundgescheuert hatte. Die dafür verantwortliche Verdickung an der Naht wurde später im Cottage eingeweicht und mit einem Hammer bearbeitet. Soweit erfolgreich, wie ich nun feststelle, denn an der Stelle drückt der Schuh nicht mehr – doch dafür an den Zehen. Und der linke Schuh macht aus Solidarität gleich mit! Vielleicht sind ja auch nur die Strümpfe zu dick ...

They courted long and secretly
By the shores of Killary Bay.

Von wunden Füßen zu wunden Herzen. Barbara Callan hat eine wahre Liebesgeschichte aus alten Zeiten, die sie von einer Mary Coyne aus Cleggan gehört hatte, in ein Lied gebracht. Es ist immer wieder das Gleiche: Mädel soll Sohn vom reichen Kaufmann heiraten, liebt aber einen armen Burschen. Nach einigem hin und her büxen die beiden im Trubel der Beerdigung zweier ertrunkener Fischer aus, reiten via Lettergesh nach Tully Cross und lassen sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von Father John trauen. So oder so ähnlich auf ihrer CD On the Bright Road zu hören, deren Veröffentlichung die im Februar 2001 verstorbene Sängerin nicht mehr erlebte.

*  *  *

CD CoverKlein ist die Welt. Ort und Zeit der Handlung: Molly’s Bar, kurz nach zehn (p.m.). Sally ist wieder da und steht hinter der Theke. Mit Euro 3,25 gibt es bei ihr das Pint Guinness zum Dumpingpreis, die anderen Pubs nehmen bereits Euro 3,40. Die Musik hat – It’s A Long Way From Clare To Here – begonnen, da erscheint ein Trupp Männer in der Tür. Angler? Ihr Häuptling unterhält sich mit Frank, kommt dann zu uns herüber und stellt sich als R. B. vor. Man habe wohl schon einmal miteinander telefoniert ... Der Groschen fällt, au ja, der Mann mit der ‘Stout Voice’.

Songs for a Stout Voice ist der Titel einer CD, die der Arnsberger vor anderthalb Jahren mit lokalen Musikern auf der Renvyle-Halbinsel aufgenommen hat und deren Reinerlös einem Hospiz zugute kommt. A decent man, in der Tat, doch weniger dezent die Gruppe sauerländischer Geschäftsleute, die er im Schlepptau hat. Die Musik sei ja ganz nett, dröhnt einer, doch ‘neun scharfe Frauen’ wären noch viel besser. Oder neun tiefe Moorlöcher um die Bande zu versenken, meint mein Mädchen.

* siehe 17. Juni 1999 und 13. Juni 2003

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Sonntag, 13. Juni 2004

Corpus Christi”, antwortet die Frau vor Walsh’s Bakery & Coffee Shop. Corpus Christi? Es dämmert, das muss so etwas wie Fronleichnam sein. Wir sind nach Clifden gekommen, um ein paar fehlende Zutaten fürs Abendessen zu besorgen. Doch was ist los? Die meisten Geschäfte haben geschlossen, und das am Sonntag um 11 Uhr. Statt dessen werden in den Eingangsbereichen der Läden blumengeschmückte Altäre aufgebaut, darauf Marien-, Jesus- und Heiligenbilder. So auch vor Walsh’s Bäckerei, wo wir gerade parken.

Corpus Christi, © 2004 Juergen KullmannDa an den Andachtsstätten noch gearbeitet wird, huschen wir in den altarfreien SuperValu, um uns vor der Prozession noch den Einkäufen zu widmen, doch als wir ihn kurz darauf wieder verlassen, wird der Altar gegenüber bereits wieder abgebaut. Unbemerkt von uns ist die Karawane vorbeigezogen, verschwindet gerade um die Ecke zur Main Street. Im Nu werden die Eingangstüren der Läden freigeräumt, auf dass die werte Kundschaft sie nach dem Weihwasser mit Euros, britischen Pounds und amerikanischen Dollars segne.

*  *  *

Der Nebel über dem Moor und den Twelve Bens hat sich gelichtet, der Himmel ist sonnenbrandblau. Ich sitze in einer Felsnische am Renvylebeach, sehe mein Mädchen in kurzen Hosen über den Sand springen, knietief durchs Wasser waten. Auf dem Kiesweg zum Strand schmust ein Hund mit einer Katze.

Erinnerungen werden wach. So kurz scheint es her zu sein, dass wir hier an einem Sonntagnachmittag auf einem Felsen saßen und unten am Strand die Landlady vom Angler‘s Rest mit ihren zwei Töchtern einen sonntäglichen Badenachmittag verbrachte. Nun lebt sie schon seit einem Jahr nicht mehr. Milk-and-Honey, wie wir die eine Tochter nannten, hat bereits vier Kinder und sieht immer noch wie Milch und Honig aus; an den Namen der zweiten kann ich mich nicht erinnern.

*  *  *

Drei Stunden später hocken wir wieder vor dem Cottage. Vor uns steht von einem Strauch verdeckt ein Mann auf der Straße und redet in sein Mobile Phone: ... o ja, alles wunderbar hier, gutes Wetter und das allerbeste – zwei Pubs gegenüber.

Unsere Nachbarn haben gewechselt. Bis gestern war das Cottage an eine Familie aus Dublin (die aber in Wexford wohnt) vermietet, seither halten es Iren aus Wexford (die aber in Dublin wohnen) in Beschlag. Letzteres haben wir von der älteren Dame erfahren, die neben der Eingangstür sitzt. Ihr Mann sei vor vier Jahren gestorben, erzählte sie, und sie komme nicht darüber hinweg. Und so berichtete mein Mädchen von ihrer Mutter, die kürzlich für zwei Nächte hier zu Besuch war und auch seit zwei Jahren Witwe ist.

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Montag, 14. Juni 2004

Hildegard an Brigitte, Klaus & Katharina – Letter from Home

Hallo, ihr Drei – So, ich hoffe ihr seid nach eurem Irland-Abenteuer nun wieder ausgeschlafen. Wir schlagen uns immer noch die Nächte um die Ohren, und bei der Gelegenheit habe ich gestern Nacht im Angler’s Rest zwei dicke Fische geschenkt bekommen. Fangfrisch, so dass ich sie kurz nach Mitternacht noch ausnehmen musste! Jetzt liegen sie im Kühlschrank, Art- und Gattung sind mir unbekannt. Gleich fahren wir nach Galway, um nach keltischen Ketten Ausschau zu halten. Vielleicht finde ich auch ein Fischrezept.

Gruß, Hildegard”

Der Chronist fährt fort

Fischrezepte haben wir in Galway keine gefunden, dafür aber ein keltisches Kettchen für Katharina, das sie demnächst mit dem großen Irland-Examen zugeschickt bekommt. Im Lieblingsladen meines Mädchens – Enable Ireland – erwirbt sie für 6 Euro einen Pullover und bei Penney’s für 12,50 Euro eine Sommerhose, die sich hoffentlich nicht wie die beiden im Oktober 2001 hier erstandenen als Einwegmodell herausstellen wird. Ein beiges Leinen-Mix, besteht da Einlaufgefahr?

Der wärmste Tag des Jahres, melden später die Medien. Junges Volk tummelt sich an der Corribmündung auf der Wiese am Spanish Arch, dem einzigen erhaltenen Torbogen des mittelalterlichen Galway. Wir lunchen draußen vor Fat Freddy’s, wenngleich keine seiner berühmten Pizzas, sondern etwas scharfes Mexikanisches. Dann schlendern wir die Quay- und High Street hoch. Mein Mädchen huscht in die Läden, und ich starte eine Fotoserie Galwayer Pub- und Ladeneingänge.

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Wir sind auf dem Heimweg, die Sonne versinkt über dem Inagh Valley. Mit dem Auto ist man zu schnell für dieses Land. Spontan in einer Kurve anhalten mag man auf der schmalen Straße nicht, und findet man dann einen Halteplatz, ist es zu spät für ein Foto. So ist das auch hier mit den flüchtigen Momenten des Seins, das ‘verweile doch ...’ klappt nicht. Fahren wir nach Hause und trinken im Paddy Coyne’s darauf ein Guinness.

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Dienstag, 15. Juni 2004

Die Stimmen der Wähler bei den Kommunal- und Europawahlen vom Freitag sind mehr oder weniger ausgezählt, und die Regierungsparteien mit ihrem Häuptling Bertie haben gewaltig eins auf den Deckel gekriegt. ‘Berties schwarzer Tag’, ‘Blutbad für die Fianna Fáil’ und ‘Mackie hol dein Messer raus’ lauten die Schlagzeilen.

In den City- und County-Councils verliert die FF rund 90 Sitze und hat mit 294 nur noch drei mehr als die Fine Gael, im Europaparlament mit nur vier gar einen weniger. Als großer Gewinner gilt die Sinn Féin, die die Zahl ihrer Sitze in den Grafschaftsräten von 21 auf 54 steigern konnte und mit einem Abgeordneten für die Republik und einer für Nordirland erstmals ins Europaparlament einzieht. So blickt uns von den Titelseiten der Zeitungen ein strahlender Gerry Adams entgegen, wenngleich sein Bart sehr viel grauer als auf den Wahlplakaten im Lande ist. Auch eine Ex-Schlagersängerin namens Dana Scallon hatte sich mit Jugendfotos um einen Platz im Europaparlament beworben; vor fünf Jahren hatte es noch geklappt, diesmal war sie chancenlos.

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BuchcoverWährend die Plakate der Gewählten und Nichtgewählten im irischen Wetter aufweichen und zerfleddern, wandern wir zur Spitze der Renvyle-Halbinsel. Ein feuchter Nebel hängt über den Bergen und Mooren, wobei es nicht sehr kalt ist. Ein weiches, diffuses Licht, schwer im Foto festzuhalten, in dem sich verlassene Dörfer und zerfallene Cottages besonders gut machen – und das, glaubt man einem Krimi, den mein Mädchen zur Zeit liest, hervorragend geeignet zum Auffinden von Moorleichen ist. Doch wir überlassen die Moorleichen lieber den Torfstechern.

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Am frühen Abend wandern wir nach Mullaghgloss, Johnnie und Margaret unsere Aufwartung zu machen. Ein Feuer mit mehr Briketts als Torf bullert im Kamin, auch wenn die ‘Ernte’ in diesem Jahr ganz gut zu werden verspricht. Im letzten hatte es zu viel geregnet, als der frisch gestochene Torf zum Trocknen lag im Bog.

Just a drop-in, wir wollen uns nicht lange aufhalten. Hauptgesprächsthema: wer ist im vergangenen Jahr gestorben und wer lebt noch. Er müsse mit seinen fast 84 Jahren keine Angst vor Krebs haben, meint Johnnie, den bekämen immer nur die jungen, das hätten die letzten Jahre gezeigt: seine Schwiegertochter, Patrick Sammons Margaret und viele mehr. Wir versuchen das Thema zu wechseln. Sein ältester Sohn Kieran ist aus Schweden zurück, und am Sonntag gibt es eine Session bei Sammon’s. Er werde kommen, verspricht Johnnie, und seine Fiddle mitbringen.

Damit machen wir uns auf den Heimweg – die Midges warten auf ihr Dinner.

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Mittwoch, 16. Juni 2004

Die Sonne über dem Maol Réidh weckt uns – der richtige Tag für einen Ausflug. Fast drei Jahre ist es her, dass wir zum letzten Mal auf dem Maumeen waren, dem Pass zwischen dem Inagh und Maum Valley, auf dessen Scheitel vor mehr als anderthalb Jahrtausenden der irische Nationalheilige genächtigt haben soll. Lange bildete ich mir ein, der Name leite sich von Mámín, kleiner Pass, ab, bis ich am schmiedeeisernen Tor vor dem Aufstieg Mám Éan (Vogelpass) las.

Maumeen, © 2005 Jürgen Kullmann“Hier wird uns keine Coach Tour begegnen”, meint mein Mädchen auf der holprig schmalen Straße kurz vor dem Schotterplatz, bei dem der Aufstieg beginnt. Und sollten sich gar zwei begegnen, müsste einer kilometerweit rückwärts fahren. Rückwärts fahren müssen wir zwar nicht, doch wir kommen um die letzte Kurve – und auf dem Platz vor dem Pfad parkt ein gelber Reisebus. Weiß der Teufel, wie der hierhergekommen ist! ‘Studiosus Reisen’, steht auf dem Schild hinter der Windschutzscheibe. Vermutlich hat er seine Studiosi im Maum Valley ausgesetzt und will sie hier wieder einsammeln.

Den Aufstieg habe ich schon oft genug beschrieben. Je höher wir kommen, desto windiger wird es, und als wir vom Scheitel des Passes ins Maum Valley blicken, wird die Erinnerung an einen Sturm auf dem Connor Pass wach. Am Hang oberhalb des Kreuzwegs sehen wir die Studiosi sich lümmeln, auf Besichtigungs- und nicht auf Pilgerfahrt, denn sie wandeln nicht barfüßig, sondern lunchen ungeniert vor und unter der überdachten Altargrotte.

Nachdem die unheilige Herde Richtung Inagh Valley abgezogen ist, steigen auch wir zum Altar hoch. In einer Nische ausgebrannte Teelichter, eine kleine Marienstatue und Geldmünzen aus Messing und Kupfer. Daneben die Medaille einer Organisation zur Bekämpfung von Leukämie und in Folie eingeschweißt das Bild eines kürzlich verstorbenen jungen Mannes. Auch in anderen Spalten und Ritzen der Grotte liegen Geldstücke. Wir legen, man kann ja nie wissen, zweimal zwei Cent hinzu.

Links neben dieser teils künstlichen eine echte Grotte im Felsen, davor ‘Leaba Phadraig’, Bett des Patrick, in den Stein gemeißelt. Die Inschrift ist neu, bislang hatten wir dieses ‘Bett’ für eine simple Felsnische gehalten und vermutet, der Heilige habe weiter unten neben seiner Quelle geschlafen. Bequem kann es nicht gewesen sein. War er ein Asket? Als er im Jahre 448 nach Dublin kam, hatte er seinen Braumeister dabei. Hatte St. Patrick womöglich an dieser Quelle Bier gebraut oder eine Destille errichtet, um sich mit Uisce Beatha Naofa, heiligem Wasser des Lebens einzudecken? Wir lassen das Rätsel ungelöst und wandern zum Auto zurück.

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Margariten am Kamin, © 2004 Hildegard Vogt-KullmannEs wird Abend. Im Kamin brennt ein Feuer und die Liebste malt ein Bild, ‘Torfabstich vor blauen Bergen’. Mit bei Brian erworbenem Isolierband wird es als drittes Werk in ‘Hildegard’s Cottage Galery’ an die Küchentür geklebt, gleich neben ‘Margariten am Kamin’ mit der recht eigenwilligen Interpretation der realen Hintergrundfarbe Schwarz. Um das Schwarz nicht ganz aus Auge & Mund zu verlieren, wandern wir rüber ins Paddy Coyne’s und trinken darauf ein Guinness – genau 100 Jahre, nachdem in Dublin ein James Joyce zum ersten Mal seine Nora ausführte.

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Donnerstag, 17. Juni 2004

Der Tag beginnt mit dem Pflücken neuer Blumen für die Kaminecke – die letzten wurden kürzlich dort weggemalt. Anschließend wagen wir uns sturmerprobt zum Glassilaunstrand, wo uns selbst an der windgeschütztesten Stelle eine mehr als nur steife Brise um die Ohren weht. Weit voraus wandern drei einsame Gestalten die Wasserkante entlang, angeführt von zwei Hunden, die sich dann und wann ins kalte Nass wagen. Ein Beispiel, dem ihre Menschen nicht folgen mögen.

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Clifden, © 2004 Jürgen KullmannSonnenuntergang. Wir stehen auf dem Clifden Hill vor dem D’Arcy Monument, das man dem Gründer der Stadt hatte widmen wollen, dann aber keine Lust mehr hatte zu Ende zu bauen. An eben der Stelle, von der aus die Stadt für die Reiseführer der Welt fotografiert zu werden pflegt. Nur dass mir das bis dato nicht gelang. Mal zeigte sich der Ort grau und trüb, in anderen Jahren verdarben Baustellenkräne den Blick. Doch heute stimmt fast alles und der Auslöser klickt und klickt und klickt.

Wieder in der Stadt, wandern wir die Straße zur Christ Church hoch. Als anglikanische Kirche ist sie älter, kleiner aber auch hübscher als die römisch-katholische, und der Stadtgründer John D’Arcy, Spross einer protestantischen Galwayer Familie, gab ihr auf dem heutigen Church Hill den prominentesten Platz. Die katholische St.-Josefs-Kirche entstand später am Ortsrand und kompensiert diese Benachteiligung durch Größe; fast hat man den Eindruck, die anglikanische passe in sie hinein.

Wir sitzen auf einer Bank vor der Kirche und warten auf den Beginn eines angekündigten Konzerts: Africa meets Ireland. Afrika naht, repräsentiert durch eine Gruppe dunkelhäutiger Frauen in bunten Gewändern, manche mit Kindern auf den Armen, andere mit Tragetaschen (Aufdruck: Malachy’s Craftshop Roundstone), aus denen Klapper- und Rasselinstrumente ragen. Palavernd verschwinden sie im Gotteshaus.

“Fünf Euro Eintritt für einen guten Zweck”, die Dame an der Kasse ist eine in Clifden lebende Deutsche und hat uns enttarnt. Alles sei improvisiert, erzählt sie, es gebe keine Regie. Die Afrikanerinnen hätten ein bisschen was einstudiert, und von den drei Iren sei einer Australier. Auch der Pfarrer in Zivil hat keine Vorstellung von dem, was passieren wird. Auf jeden Fall sei es ein informal evening, erläutert er, keine Gebete und kein Gottesdienst. Den Herrn könne man auch anders preisen!

Und ob! “Praise the Lord!!!!!”, brüllt Hüften schwingend die dunkelhäutige Vorsängerin ins Mikrofon, bis ihr endlich, kurz bevor die Kirchendecke herunterfällt, das gewünschte “Hallelujah” des Auditoriums entgegenschallt. Womit das Tanzen und Singen, Rasseln und Klappern seinen Lauf nimmt. Das Baby auf dem Arm der Mutter tanzt mit.

Afrika trifft Irland, afrikanische Gospelmusik auf traditionelle irische. Ein australischer Ire mit Gitarre, ein irischer mit Dudelsack und ein bärtiger Barde mit diversen Flöten. Dazu der Hausherr und Pfarrer mit einer Tinwhistle, und eine Touristin hat ganz zufällig ihre Bodhrán dabei. Von ihr hört man nicht viel, ansonsten große Klasse! Reels, Jigs, Hornpipes, Slow Airs und Songs über die glorreichen Niederlagen der Iren im Kampf gegen Wilhelm von Oranien. Zum Abschluss dann ein gälisches Lied aus jenen Tagen: Thugamar féin an samradh linn – we brought the summer with us.

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Den mitgebrachten Sommer noch im Ohr und auf den Lippen, schlendern wir gegen 22 Uhr die Market Street hoch und betreten Lowry’s Bar, wo ‘Music to-nite’ angekündigt ist. Liam Ich-weiß-nicht-mehr-wie-er-heißt Akkordeon und Melodeon, Micky Martin Gesang sowie Gitarre und Harfe, letztere ein handliches Reisemodell. Das Äußere des jungen Iren erinnert an Finbar Furey vor dreißig Jahren und dito sein Programm: ‘The Lakes of Pontchartrain’, ‘The Green Fields of France’ und all die Songs der Liedermacherszene der 70er.

Der eine kann’s, der andere nicht – und denen, die’s können, sieht man es nicht unbedingt an. So braucht man zum Tanzen keine zwei gesunden Beine, wie ein ‘alter Schotte’ mit Unterschenkelprothese demonstriert, ehe er a capella ‘Loch Lomond’ zum Besten gibt:

Oh ye’ll take the high road and I’ll take the low road
And I’ll be in Scotland afore ye
But me and my true love will never meet again
On the bonnie, bonnie banks of Loch Lomond

Einheimische Musiker pflegen zu dieser Melodie ‘Come over the hills my bonnie Irish lass ...’ zu singen.

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Freitag, 18. Juni 2004

So sind sie nun zu dritt: der vor acht Jahren in Foxford erworbene beige gesprenkelte Aran Pullover, der vor einem Jahren in Galway gekaufte blau gesprenkelte und der heute in Westport erstandene grün gesprenkelte. Am Preis von rund 35 Euro hat sich in all den Jahren nichts geändert. Das heißt schon etwas in diesem Land.

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Wir sind von unserem Ausflug in den County Mayo zurück und es geht auf neun Uhr zu. Was tun? Den Abend ausklingen lassen, oder auf ein Pint ins Paddy Coyne’s? Da pocht es an der Tür. Rodger H. aus England steht auf der Matte.

Dazu muss ich ein wenig ausholen. Anfang der 50-er Jahre kam der Oxford-Professor Tony Knowland mit seiner Familie nach Renvyle und ließ sich dort nieder. Fasziniert von der lebendigen Hausmusikszene kaufte er, als die Halbinsel 1957 an das Stromnetz angeschlossen wurde, ein Tonbandgerät und zeichnete bei spontanen Sessions in den Cottages und Pubs die Musik auf, Aufnahmen, die er viele Jahre später mit den dazugehörigen Geschichten in lokalen Rundfunksendungen präsentierte.

CD-CoverAll das erfuhren wir, als uns im letzten Sommer bei einem Besuch in Tully unser Gastgeber Rainer alte Kassetten mit einem Mitschnitt jener Sendungen zeigte. In sehr schlechtem Zustand, zum Teil durch Überspielungen zerstört. Ich restaurierte sie, so gut ich dazu in der Lage war, erstellte eine CD und schickte Kopien an Prof. Knowland und – soweit ich sie identifizieren konnte – die beteiligten Musiker.

Von jener CD hatte Rodger, selbst ein hervorragender Concertina-Spieler, gehört, als er im letzten Herbst mit seiner Frau Jill und John Martin auf Renvyle war. Er schrieb uns, ich schickte ihm eine Kopie und wir verabredeten uns für diesen Juni.

Da ist er nun. Wie hätte er gestern Abend an unsere Tür geklopft! Denn am Nachmittag war unser gemeinsamer Bekannter John Martin mit einer kleinen Reisegruppe aus East Anglia eingetroffen und hatte, als ihm unverhofft Kieran über den Weg lief, eine spontane Session im Paddy Coyne’s arrangiert. Kieran fuhr nach Mullaghgloss und holte Johnnie mit seiner Fiddle, Jill packte ihr Melodeon aus, Rodger seine Concertina - - - derweil wir nichts besseres zu tun hatten, als in Clifden einem Micky Martin zu lauschen.

‘Ní haon maith a bheith ag caoineadh nuair a imíonn an tsochraid’, es bringt nichts zu lamentieren, wenn die Beerdigung vorbei ist. Für heute habe John einen Minibus nach Clifden organisiert, erzählt Rodger, Musik in Lowry’s Bar. Vielleicht sei ja noch Platz im Bus ...

Die Müdigkeit ist verflogen. Na klar sei Platz, meint John Martin eine Viertelstunde später, als er vom Fahrersitz des roten, nicht mehr ganz neuen Gefährts springt und mein Mädchen umarmt. Ansonsten werde er Platz schaffen. Alle mal zusammenrücken! Und so machen sich eine Handvoll irophiler Engländer verstärkt durch zwei verrückte Deutsche nach Clifden auf, um die Grüne Insel in Lowry’s Bar mit Rebelsongs und Guinness aus britischer Knechtschaft zu befreien.

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Reiseberichte Irland: Connemara 2004
© 2005 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 09.02.2007