Irisches Tagebuch 2002

A Nation Once Again ...

 

Sonnabend, 15. Juni 2002

Ganz ohne Regen geht es auch heute nicht. Wir sind unterwegs nach Leenaun, und hinter Lough Fee beginnt es zu schütten. Kann man in dem Dorf einen Regentag überleben, oder sollen wir an der N 59 gleich nach rechts abbiegen und durchs Inagh Valley nach Roundstone fahren? Quatsch, wir wollten nach Leenaun, und jetzt fahren wir auch nach Leenaun! Worauf sich der Regen geschlagen gibt.

DVD BoxWir parken gegenüber dem Blackberry Café, das mehr als ein Jahrzehnt lang The Field hieß. Der Bekanntheitsgrad des vor zwölf Jahren gedrehten Films ist nicht mehr groß genug, um werbewirksam zu sein. J. B. Keane, der Autor der literarischen Vorlage, starb vor zwei Wochen nach langer Krankheit in seiner Heimatstadt Listowel. An der Beerdigung nahm auch Staatspräsidentin Mary McAleese teil.

Das von einer Trockensteinmauer eingefasste Feld, um das es in der tragischen Geschichte geht, liegt sechs Meilen weiter nördlich an der Straße nach Westport, unterhalb der schwarzen Partry Mountains rechts neben einer kleinen Brücke. Und bei dem Wasserfall, vor dem sich Bull McCabe mit seinem Konkurrenten um das Grundstück prügelt, handelt es sich um die Aasleagh Falls hinter dem Abzweig nach Louisburgh.

Doch es gibt nur wenige Hinweise auf die Schauplätze der Handlung. Dass die Pubszenen fast ausschließlich in der Field Bar gedreht wurden, die zuvor Gaynor’s Pub hieß, mag man sich denken. ‘See the house where The Bull McCabe lived’, fordert das Galway Magazine den werten Leser auf, doch wo um alles in der Welt steht dieses Haus? Anders als Cong mit seinem Quiet-Man-Rummel zieht Leenaun kaum Nutzen aus ‘seinem’ Film. Richard Harris spielte damals den ‘Bullen McCabe’, die Rolle brachte ihm eine Oskar-Nominierung ein. Die Kids von heute kennen ihn eher als Professor Albus Dumbledore aus den Harry-Potter-Filmen.

Wir lassen den Berg, den man des Teufels Mutter nennt, links liegen und wandern dem Wetter nicht trauend die Straße nach Maam hoch. Gleich hinter dem Ortsausgang erkennen wir jenseits der Brücke über einen schmalen aber recht ungestümen Fluss einen Pfad, der sich rechts den Hang hoch zieht und hinter eine Kehre verschwindet. Wohin er wohl führt?

Der Pfad windet sich um den Berg, so dass die Straße schnell außer Sicht ist. Bis weit den Leenaun Hill hinauf zeigt er sich als Strich in der Landschaft, parallel zum Eas Dubh resp. ‘schwarzem Wasserfall’, wie der Fluss laut Tim Robinsons Connemarakarte heißt. Wasserfall ist zwar übertrieben, doch immerhin rauscht er unterhalb von uns recht kräftig zu Tal. Wir sind nicht allein. Schon seit der Brücke begleitet uns ein Wollknäuel von einem Hund, Herr der Berge und Schafe, scheint er uns sagen zu wollen. Und die erweisen ihm trotz seiner erfreulichen Lautlosigkeit mehr Respekt als uns Zweibeinern.

Regenzeit in Irland. Alle hundert Meter dringt Wasser aus dem Berg und verwandelt den Weg in einen Morast. Dem Hund scheint es nichts auszumachen, doch uns werden die Füße nass. Da tauchen hinter einer Kehre ein paar gut platzierte Sitzsteine am Hang auf. Wir steigen hoch und lassen uns nieder: Endstation der heutigen Expedition. Vor uns kahle grüne Hänge, unter uns ein schmaler, tosender Wasserlauf und um uns ein paar Dutzend Schafe – die Landschaft für den Film, in dem ‘The Bull McCabe’ seinen Widerpart ‘The Yank’ im Kampf um ein kleines Stück Land, das er über Jahre hinweg urbar gemacht und beackert hatte, tötet. Uns fröstelt, die hiesigen Sitzsteine sind nicht beheizt. Wir wandern zur Straße zurück.

*  *  *

Wie schon gestern hocken wir auch heute Nacht wieder in Molly’s Bar. Tom kommt herein, seinen Hausnamen habe ich vergessen. Auch gestern saß er hier und rauchte ein für meine Nase ziemlich scheußliches Kraut. In früheren Jahren kam er oft mit seiner Mutter Nora, wenn Musik angesagt war. Ja, sie sei ein großer Fan von Frank gewesen, meint er, für sie habe Frank immer ‘In Dublin’s Fair City’ gesungen, auch wenn er das Lied nicht sonderlich mochte. Nora starb vor zwei oder drei Jahren.

Überraschenderweise wird es nach 11 Uhr voller, sehr viel voller, zu voll für unseren Geschmack. Kein Wunder, denn das Renvyle Weekly Lotto hat sich mit seiner Wochenauslosung angesagt. Der Geräuschpegel steigt, und am Ende können Frank und Kieran kaum noch dagegen ansingen. So bleiben wir nicht bis zum Schluss und machen uns kurz nach halb eins aus dem Staub.

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Sonntag, 16. Juni 2002

Roundstone ist in diesem Jahr nicht so überlaufen, wir haben kein Problem einen Parkplatz zu finden. Wir schlendern zum Craftshop des Bodhrán-Makers, die Werkstatt ist nur noch ein Anhängsel. Mit dem Euro fällt erst so richtig auf, wie überteuert hier vieles ist – selbst für irische Verhältnisse. Die Whistle-CD von Mary Bergin, uns von den Lübeckern ans Herz gelegt, kostet € 21,50. Da schauen wir uns besser in Clifden, Galway oder Westport um.

Wir kommen zurück ins Dorf, und die ganze Straße ist voller Menschen. Das Gekrabbel kanalisiert sich nach rechts und links in Richtung der Eingangstüren zu den Pubs. Nach zehn Minuten ist der Spuk vorbei und wir sind die einzigen auf der Straße, es fahren auch keine Autos mehr. Des Rätsels Lösung ist den Schildern an den Pubtüren zu entnehmen:

Ireland vs. Spain 12.30 – 14.30

Was nun? Allmählich bekommen wir Hunger. Einen Pub oder ein Café ohne Fernsehgedröhn gibt es nicht, und so fahren wir nach Clifden zurück.

Wir nehmen diesmal nicht den Weg über die Roundstone Bogs, sondern den längeren entlang der Küste durch die Steinlandschaft von Ballyconneely. Es ist die ‘Whiskey and Soda Road’ mit der prickelnden Frische jener Ingredienzien, die der Wind vom nahen Meer landeinwärts bläst. Verwaist sind auch die Strände an der Gorteen und Ballyconneely Bay. In Clifden ist es trotz menschleerer Straßen schwer einen Parkplatz zu finden, bei der zweiten Runde ums Karree gelingt es.

Ob es im Derryclare noch einen freien Tisch gibt? Wo kein Fernseher läuft, sollte die Chance gegeben sein. Wir entdecken einen Platz nahe der Tür; es zieht zwar ein bisschen, aber ehe man verhungert ... Doch der Herr des Hauses hat uns entdeckt und winkt uns mit zwei Speisekarten in einen lauschigen Winkel, der vom Eingang nicht einsehbar war.

Beim Bezahlen fragen wir, was aus der Lachsräucherei des Bretonen an der Ballyconneely Road geworden ist. Als wir vor dort einer Stunde vorbeikamen, gab es sie einfach nicht mehr, sie war wie vom Erdboden verschwunden! “Der Franzose? Nun ja, der habe verkauft, trouble with the local people.” Auf Deutsch: weggeekelt wie seinerzeit eine deutsche Doris aus ihrem Restaurant an der Market Street, gleich schräg gegenüber.

*  *  *

Wer sich mit historischen und nicht ganz so historischen Liedern und Rebelsongs auskennt, weiß, worauf die Iren am meisten stolz sind: ihre heldenhaften Niederlagen. Und so gibt es heute Abend einen Grund zum Feiern, denn Irland ist nach einem Elfmeterschießen im Achtelfinale der Fußballweltmeisterschaft ausgeschieden. Frank und Kieran sind für die Musik im Angler’s Rest engagiert, und die Strophen von ‘The Fields of Athenry’ wechseln sich mit ‘Ole-Ole-Ole-Gesängen’ ab. Zur Bar vorzudringen gelingt noch so gerade, zu den Toiletten nur, wenn man Kieran als Rammbock vor sich her gehen lässt. Die Pints für die nahe der Tür sitzenden Musiker werden von draußen hereingetragen – wir lassen uns auch welche mitbringen. Gegen halb eins in der Früh drängelt sich Patrick Sammon durch das Gewühl und ruft Frank etwas ins Ohr. Der nickt, stimmt die Nationalhymne an, und das Fest ist vorbei. Die Garda ist auf dem Weg nach Tully Cross.

* s.a. 20. Juni 1997

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Montag, 17. Juni 2002

Jürgen an Gisela – Letter From Home

Liebe Gisela – Zwei oder drei Millionen irischer Schafe und zwei deutsche, das war alles, was sich gestern Mittag unter Irlands Himmel bewegte. Ansonsten hockte das Land vor den Fernsehern der Pubs und sah Fußball. Und am Abend des selben Tages feierte und besang es in nämlichen Pubs die glorreiche Niederlage seiner Jungs gegen Spanien, als sei man gerade Fußballweltmeister geworden. Welch anderes Land kann seine Niederlagen so feiern und besingen wie die Iren: von der Schlacht am Boyne über die 1798-er Rebellion bis zum Osteraufstand von 1916 – eine Tradition, die sich nun auf dem Felde des Fußballs fortsetzt.

Laut irischem Rundfunk sollte es heute wieder einmal regnen, und so sind wir nach Westport gefahren. Dort blieb der Regen jedoch aus. Es schien sogar ein wenig die Sonne, so dass wir zum Hafen hinunter fuhren. Du wirst es kaum glauben, am Kai hatten Schiffe festgemacht. Und noch überraschender: sie schwammen im Wasser und lagen nicht im Schlick. Wir diskutieren derzeit darüber, ob dies am Wetter der letzten Tage liegt, dem Abschmelzen der Polkappen oder ob man die Bucht ausgebaggert hat.

Allmählich scheint Leben ins Hafenviertel zu kommen, wenn auch sehr langsam. Es gibt nun einen schönen Fußweg vom Hafen über das Anwesen von Westport House in die Stadt. Er beginnt am Quay Cottage (du erinnerst dich, da, wo wir vor 10 Jahren die Kellnerin unwissentlich um ihre Service Charge brachten, und das seither mittags geschlossen hat) und mündet oben an der Mall. Den probierten wir gleich aus. An einer Weggabelung in der bewaldeten Parkanlage gab es eine kleine Kontroverse ob der Richtung, in der die Stadt liegt; Hildegard setzte sich durch und hatte Recht. Wir kamen tatsächlich an der Mall heraus, und ich musste mir die bereits zurechtgelegten schadenfrohen Bemerkungen verkneifen.

Shopping in Westport. Zu allem Übel hatte ich mein Portemonnaie im Cottage liegen lassen, und so schlenderte ich an den Schaufenstern entlang, derweil Hildegard die Läden abarbeitete. Zwar bot sie mir gnädigst einen Kredit an, doch CDs hatten wir schon in Clifden erstanden und von wegen Lesestoff fahren wir in den nächsten Tagen nach Galway. Hildegards Ausbeute: Viel anprobiert und für viel Geld ein T-Shirt gekauft. Ihr Problem: Es gibt in Westport keinen Secondhand-Shop zu Gunsten der Witwen und Waisen vom Barhocker gefallener Trinker, die Kleidungsstücke zu Preisen zwischen drei und sechs Euro anbieten.

*  *  *

Am Abend dann Musik mit Johnnie und Kieran in Barry’s Hotelbar. Uns gegenüber ein amerikanisches Pärchen, die Dame ganz fasziniert von Johnnie. Was der mit seinen 82 Lenzen aber auch flirten kann! Ich glaube, gegen einen echten alten weißhaarigen irischen Fiddler hat bei den Mädels kein Mr. World eine Chance. Und so erwarb sie gleich die CD seiner Söhne und lieh sich von Hildegard einen Stift, um sie signieren zu lassen.

Wieder einmal war es unglaublich voll, und wieder einmal Weekly Lotto der Grund. Du kennst das ja, die wöchentliche, in den Pubs ausgespielte Lotterie zu Gunsten von Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen. Hildegard kaufte ein Los, gewann aber nichts. Um so mehr Kieran, auf ihn fiel der Anwesenheitspreis in Höhe von 150 Euro !!! Das strahlende Gesicht hättest du sehen müssen! Er kann den Gewinn sicher gut gebrauchen, denn in den letzten Monaten fuhr er oft nach Galway zu Noreen ins Krankenhaus anstatt zu arbeiten, und dann war da noch die Reise nach Lourdes. Hat aber alles nichts genützt, Noreen ist gestorben.

Johnnie Coyne, © Jürgen KullmannDoch zurück in die Bar, das heutige Drama nimmt seinen Lauf. Einer der ortsüblichen, von Board Fáilte zur Erfüllung der Touristenerwartungen angestellten Säufer will Johnnie etwas ins Ohr flüstern, drängt sich an seinen Tisch – und setzt sich auf die neben ihm liegende Fiddle. Ein Krachen und der Steg ist gebrochen. Johnnies Gesicht wird zu einem einzigen Ausdruck von Entsetzen. Dann fasst er sich: “Ein Unfall, da kann man nichts machen, keiner hat Schuld.” Alle sehen sich betroffen an, die Amerikanerin neben ihm nimmt ihn in die Arme. Und dann kommt ihr eine Idee ...

Sie tuschelt mit Hildegard: Ob sie nicht eine Ansage durchs Mikrophon machen könne, ein fund raising organisieren von wegen Fiddlereparatur bzw. Neukauf? Ihr Amerikanisch verstehe man hier so schlecht. Ihr German-English noch weniger, meint Hildegard, und so einigt man sich auf Amerikanisch. Die Ansage wird gemacht und eine Mütze aufgetrieben. Die Amerikanerin packt als Grundkapital 50 Dollar hinein, wir unsere Euros, und die Sammelaktion beginnt. Die beiden Mädchen marschieren durch die Bar, das aus der Neuen Welt den Gästen die Mütze vor die Nase haltend und das meine auf die gebrochene Fiddle verweisend. Nur einer spendet nichts: der ortsübliche Trinker, der sich auf die Geige gesetzt hatte.

Wie viel zusammenkam, wissen wir nicht, viele 5-Euro-Scheine und Kleingeld darunter. Eine von Johnnies Töchtern – ich kann sie nicht auseinander halten – will morgen damit nach Galway zu einem Fiddle-Maker; vielleicht lässt sich ja ein neuer Steg anbringen.

Soviel für heute. Bis nachts um zwei hockten wir noch zusammen, mit Johnnie, Kieran, seiner Schwester und Franks Schwiegersohn in spe Michael, der uns von Mal zu Mal sympathischer wird. Und dann hieß es wieder ... driving Johnnie home to Mullaghgloss.

Slán is beannacht as Tulach na Croise,
Hildegard und Jürgen”

Postskriptum

Wir sind auf dem Weg nach Mullaghgloss, mit Johnnie und einem leeren Geigenkasten. Es ist ein neuer Geigenkasten, erzählt er, und kam vor einigen Tagen per Post aus Amerika, darin eine große Flasche Whiskey. Der Absender: Ein bekannter amerikanischer Rechtsanwalt, der vor 30 Jahren als Student ein halbes Jahr auf Renvyle verbracht hatte und nach einem kürzlichen Besuch zu dem Schluss gekommen war, Johnnies Fiddle bräuchte eine neue Kiste. Und nun braucht die Kiste eine neue Geige ...

Es ist beeindruckend, mit welch äußerer Gelassenheit Johnnie den ‘Unfall’ mit der 200 Jahre alten Geige hinnimmt, die in besseren Tagen – wenn sie denn besser waren – bei den New Yorker Philharmonikern gespielt hatte. Der ‘poor fellow’, der sich darauf gesetzt hatte, sei ein ‘physical wreck’, erzählt er, ‘because of too much drink’. Man könne ihn nicht dafür verantwortlich machen. Geld, um den Schaden zu ersetzen, habe der arme Mann sowieso nicht, und irgendwie würde er ihn trotzdem mögen.

Und damit sind wir in Mullaghgloss, es ist kurz vor drei. Für Donnerstag Abend sind wir zu einem Besuch eingeladen. Bis dann, Johnnie.

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Dienstag, 18. Juni 2002

Früher Mittag. Noch etwas müde wandern wir über die Spitze unserer Halbinsel, über Rinn Mhaoile, das Kap der O’Malleys. Später wurde Renvyle daraus. Ein markantes Wahrzeichen der Landzunge ist Renvyle Castle, die Ruine eines alten Wehrturms, dem schon seit Jahrhunderten eine Seite fehlt. Im 13. Jahrhundert soll er von den O’Flahertys erbaut worden sein, und manch einer sagt, die legendäre Gráinne Ní Mháille (Grace O’Malley) habe hier im Jahr 1546 nach der Hochzeit mit Dónal O’Flaherty ihre Flitterwochen verbracht. Wenn dem so war, blieb ihr die Zeit nicht in guter Erinnerung, denn nach den Worten eines unbekannten Dichters hat die Kanonenkugel eines ihrer Schiffe den Turm zur Ruine gemacht:

No braver seaman took the deck
     In hurricane or squalls
Since Grace O’Malley battered down
     Old Currath Castle’s walls.

Mythos oder Wahrheit? Wahrscheinlicher ist, dass der Turm von einem Major Myles Symes zerstört wurde, der im Februar 1655 den Auftrag bekam alle Festungen Connachts dem Erdboden gleichzumachen.

Ganz ist es ihm nicht gelungen, und auch ohne die fehlende Seite erweist sich der verbliebene Rest als bemerkenswert stabil, stabiler als vieles, was in den letzten hundert Jahren gebaut wurde. So scheint man im Old Castle B&B am Fuße des Turmes keinerlei Befürchtung zu hegen, beim nächsten Sturm von der Ruine erschlagen zu werden, ein Vertrauen, das John Martin teilt, der hier regelmäßig mit seinem Renvyle-Expeditonskorps nächtigt.

*  *  *

Am Nachmittag wird es kühler und windiger. Ich gehe ins Haus. Mein Mädchen malt ein Bild und stellt es zur Begutachtung auf den Kaminsims. Häuser am Galwaykai, wer mag, kann auch die Häuserzeile von Tully hineininterpretieren. Da klopft es an der Tür, die Lübecker sind aus Deutschland zurück. Ihre Reiseroute: Lübeck-London (Flug), London-Shannon (Flug), Shannon-Galway (Bus), Galway-Tullycross (gleichfalls Bus). Das ganze ist nur dienstags praktizierbar, denn nur an diesem Tag gibt es die Busverbindung Galway-Tullycross. Sie hatten auf der Suche nach einem Lift unsere offene Halbtür gesehen, und so fahre ich sie nach einem Aufwärmschluck zu ihrem Rainbow House hoch.

*  *  *

Clifen StationhouseDen Abend verbringen wir im Clifdener Station House, wo die ‘Turfmen’ Frank und Michael den auf den letzten Zug nach Galway wartenden Reisenden die Zeit mit Musik vertreiben, bis sie merken, dass sie ihn um 70 Jahre verpasst haben. Es ist kein klassischer Pub, doch die Bahnhofsatmosphäre mit den alten Schildern – teils in gälischer Sprache – hat etwas für sich. Zudem wird, wenn man die Musik auch hören will, nicht so viel und laut dazwischengeredet wie in den Kneipen an der Main- und Market Street. Lieder von der Eisenbahn gibt es keine, dafür aber die ‘Hills of Donegal’, ein Auswandererlied, das gut in einen Bahnhof passt, von dem aus im letzten Jahrhundert viele ihr Land verlassen haben:

In the city of Chicago,
     As the evening shadows fall
There are people dreaming
     Of the hills of Donegal.

Christy Moore hat es einst gesungen.

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Mittwoch, 19. Juni 2002

Sollte heute die Sonne scheinen? Kurz nach dem Frühstück sieht es in der Tat danach aus. “Lass uns einen Spaziergang über den ‘alten Renvyle Bogway’ machen”, meint mein Mädchen. Also wandern wir die Straße Richtung Kylemore hinunter und suchen die Stelle, an der es laut Wanderkarte rechts ins Moor geht. “Hier muss es sein”, vermutet meine Begleiterin, auch wenn der erwartete schwarze Pfosten mit dem aufgemalten gelben Männchen fehlt. Ja, sie sei sich sicher.

Die Sicherheit schwindet, als der Weg nach einigen hundert Metern im Morast endet. Dann war es wohl doch nicht die richtige Stelle, oder die Feen haben den Weg verschoben, was kein Wunder wäre in einem Land, in dem komplette Lachsräuchereien über Nacht von der Bildfläche verschwinden. Was nun? Zur Straße zurückgehen? Eigentlich müsste der ‘richtige Bogway’ gar nicht weit von hier im Osten liegen. Versuchen wir es quer über das Moor!

‘O schaurig ists übers Moor zu gehn ...’ schrieb Annette von Droste Hülshof, doch es gibt da auch eine nette irische Geschichte: Ein junger Mann geht am Vorabend seiner Hochzeit zum Torfholen ins Moor und kehrt nicht mehr zurück. Keine Frage, der arme Junge ist in einem Moorloch versunken. Trauer im Dorf und bei der Braut, die, wie sich bald herausstellt, ein Kind erwartet. Die Zeit vergeht, und nach mehr als einem Jahr berichtet ein Besucher aus Neuseeland, der Verschwundene sei ihm dort über den Weg gelaufen. “Mann, was haben wir hier für Moorlöcher”, klopft man sich stolz auf die Schultern, “die gehen durch bis zur anderen Seite der Erde.”

Gar so tief ist das Moorloch, in das ich nach gut hundert Metern trete, zwar nicht, aber mir reicht es. Dabei sah die Stelle auf den ersten Blick so trocken aus! Bis weit über den Knöchel versinkt mein rechter Fuß im Nichts und ich habe Mühe, ihn wieder herauszuziehen.

Auf einem Stein sitzend versuche ich mich zu entschlammen und lasse den Socken im Wind trocknen. Dann geht es zurück zur Straße, wo wir nach einem halben Kilometer den Hinweispfosten zum ‘richtigen Bogway’ finden.

*  *  *

Am Abend im Paddy Coyne’s. Es geht auf elf Uhr zu, derweil sich der Flüssigkeitspegel in unseren Gläsern dem Boden nähert. Auf den Fensterbänken hinter uns 50 bis 100 Jahre alte Bücher, vom Landlord zwecks Dekorierung seines öffentlichen Hauses zum Preis von IR£ 1 pro Stück erworben und mit dem Stempel Paddy Coyne’s Pubs, Tully Cross versehen. Wir blättern uns hindurch: Eine Chemistry for Beginners aus dem Jahr 1942 habe ich in der Hand, derweil sich mein Mädchen in einen Krimi von den Shetlandinseln aus eben dieser Zeit vertieft. Ich finde etwas über Schwarzpulver. Ob sich die alte IRA aus solcher Publektüre die Rezepte für ihren Sprengstoff besorgte?

“Hello!” Regine und Rainer, die ‘Lübecker’, stehen plötzlich vor uns, kommen aus dem Angler’s Rest, wo es ihnen heute Abend zu langweilig war. Seit Rainers Pensionierung verbringen sie sechs Monate im Jahr auf Renvyle und kennen alle Coynes und O’Malleys, insbesondere die vom oberen Teil der Halbinsel. Zu denen gehört Jacky Coyne, der Renvyler Tanzmeister und Champion-Angler, den Regine an der Theke stehen sieht und herbeiwinkt. Eigentlich wollten wir schon gehen, doch nun wird es wieder bis nach Mitternacht, ehe wir über die Straße nach Hause kommen. Wobei anzumerken ist, dass für bestimmte Gäste auch nach dem Schließen der Bar noch Guinness gezapft wird.

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Donnerstag, 20. Juni 2002

Ag báisteach arís – es regnet mal wieder. Nach einer längeren Stippvisite im Craftshop der Joyces von Recess fahren wir zum Ballynahinch Castle, das, so glaube ich einst geschrieben zu haben*, bei Regen am schönsten ist. Auch in der Bretagne gibt es einen solchen Ort – Locronon. Es muss an dem grauen Gemäuer liegen, das Regenfotos so attraktiv macht. Im vorliegenden Fall bezog sich die Einschätzung auf die Gemütlichkeit des Castle-Pubs, in dem an regenverhangenen Tagen Angler aus aller Welt ihre Gummistiefel vor der Garderobentür abstellen und Unterschlupf suchen.

Das Schloss liegt versteckt inmitten einer weitläufigen Seen- und Parklandschaft. Von zwei Seiten und Straßen her führt eine Zufahrt aufs Gelände, jede mit einem weißen Torhaus versehen, denen man den indischen Vorbesitzer ansieht. Denn 1924 erwarb es der Maharadscha von Nawanagar, doch heute ist das Schloss ein Hotel für Angler mit dickem Geldbeutel, denen man im Gegensatz zur Klientel von Ashford Castle ihre Bankkonten nicht ansieht.

Sunset at Ballynahinch Lake, © Paul Guilfoyle Es regnet zwar, als wir aus dem Auto steigen, doch nach einer Pubeinkehr ist uns nicht zu Mute. So ziehen wir uns die Kapuzen über die Köpfe und wandern los, über Waldwege, mit einem Laubdach so dicht, dass kaum ein Regentropfen durchdringt. Dann treten wir ins Freie und stehen vor einem See. Ein durch Baumüberhang geschützter Uferweg lässt uns weiterwandern, der See wird zum Fluss, über den ein schmaler Steg führt. Drei Angler versuchen ihr Glück. Wir wünschen den Fischen das ihre und ziehen weiter, kommen unter einer steinernen Brücke hindurch, und der Fluss weitet sich wieder zum See. Rechts taucht dunstverhangen das Schloss auf, links führt ein Pfad auf eine kleine Halbinsel. “Dieser Farn hier”, erfahre ich von meiner Begleiterin, “ist eine unheimlich seltene Art”. Ich bin beeindruckt. Bänke laden zum Verweilen ein, das heißt, sie würden es tun, wenn sie nicht so nass wären. Vielleicht sollten wir bei gutem Wetter wiederkommen, am besten bei Sonnenuntergang.

*  *  *

Es ist zwanzig nach acht, als wir bei Johnnie vorfahren. Tee, Whiskey und Guinness sei in hinreichendem Maße vorhanden, hatte er Montagnacht auf der Heimfahrt von Barry’s Bar versprochen. Wie er uns wohl einschätzt?

Johnnie öffnet auf unser Klopfen, führt uns nach rechts in den Living Room und stellt uns Margaret vor. Wir setzen uns – vier schüchterne Menschen auf vier mal vier Meter. Eine Mauerstärke wie eine Festung hat das Haus, massive Eichendielen und eine offene Feuerstelle in grünem Connemara-Marmor eingefasst. Im Kamin prasselt ein Feuer aus Holzscheiten. “Heizt besser als Torf”, meint Johnnie und grinst, “gibt es aber nur, wenn Besuch kommt”.

Vier schüchterne Menschen, das klappt eigentlich wunderbar. Johnnie schenkt den Whiskey ein wie Wein – und trinkt ihn auch so, verrät Margaret. Auch wenn er ihn nicht vertrage und es am nächsten Morgen ‘auf der Brust’ habe. Aufgewachsen ist Johnnie im Cottage gegenüber, wo jetzt eine seiner Schwestern wohnt. Dieses Haus hier, in dem er seine zwölf Kinder großgezogen hat, war einst der Laden von Mullaghgloss. Wir sitzen im Verkaufsraum.

Noreens Tod ist noch frisch in der Erinnerung, so dass sich das Thema immer wieder nach vorne drängt; das letzte Jahr, die vergebliche Reise nach Lourdes und so weiter. Begraben ist sie auf dem Friedhof vor Cleggan, dort, wo auch Oliver St. John Gogarty seine letzte Ruhe gefunden hat.

Ich frage, was seine Fiddle macht. Der Fiddle-Maker in Galway wolle einen neuen Steg anbringen, erzählt Johnnie, es dauere aber eine Weile und bis dahin würde es sich eine andere borgen. “Seine eigene Schuld!” meint Margaret, als sie mit getoasteten Sandwichs und Tee aus der Küche kommt. Man dürfe seine Fiddle halt nicht so ablegen, dass sich jemand draufsetzen kann. Womit sich das Thema diversen Instrumenten zuwendet, die in den vergangenen 50 Jahren in diversen Pubs bei diversen Gelegenheiten zu Bruch oder beinahe zu Bruch gegangen sind. Es sind gar nicht so wenige, vielleicht sollte jemand mal ein Buch darüber schreiben.

Es ist gegen halb elf, als wir aufbrechen, diesmal nicht nur von Johnnie, sondern auch von Margaret umarmt und abgeküsst. Und gemeinsam lotsen die beiden einen arg ungeschickt rangierenden Fahrer vom Hof zur Straße hinunter, wobei der Leihwagen einen leichten Kratzer abbekommt. Werde ihn mit Schuhcreme kaschieren.

* siehe 22. Juni 1998

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Freitag, 21. Juni 2002

Über das Wetter in Tully Cross schreibe ich heute nichts, nur darüber, dass wir ein weiteres Mal nach Galway fahren und es dort nicht regnet. Zumindest nicht durchgängig.

Nach vielen Jahren und mehreren Anläufen sind wir an einem Tag und zu einer Stunde in der Grafschaftshauptstadt, zu der das Nora-Barnacle-Haus geöffnet hat, das Haus, in dem 1884 James Joyces Muse und Lebensgefährtin geboren wurde. Und hier am Küchentisch stellte sie 1909 ihren James, von dem sie meinte, dass er hätte besser Sänger werden sollen, ihrer Mutter Annie vor. Der Tisch vor uns ist allerdings ein anderer, denn die Bäckerstochter Nora entstammte einer Familie, deren Möbel weniger haltbar waren als die der Galwayer Patrizier. Joyce kam in der Folge mehrfach zu Besuch und schrieb ein paar Gedichte und Artikel über Galway und seine Bewohner.

Fast hätten wir das schmale Reihenhaus nicht gefunden, denn die Hinweistafel am Eingang von Bowling Green No. 8 gefiel einem nächtlichen Passanten so gut, dass er sie aus seiner Verankerung entfernte und mitgehen ließ. Sollten Sie die Tafel durch einen Zufall über dem Kamin eines Joyce-Verehrers erblicken, bitten Mary & Sheila Gallagher, die dieses ‘kleinste Museum Irlands’ in Eigenregie führen, um einen Hinweis.

Ein Raum unten, ein Raum oben – fast unvorstellbar, dass hier bis zu sechs Menschen gelebt haben. So gibt es, abgesehen vom Eindruck der Beengtheit, nicht viel sehen. Ein paar Briefe, Fotografien und Erinnerungsstücke, das ist alles. Doch allein das nette Gespräch mit der Museumsinhaberin im unteren Raum ist die Eintrittsgebühr in Höhe von € 2,50 wert. Wir fragen nach dem Film über Nora Barnacle, den wir vor längerer Zeit in Dortmund sahen. Sie kenne ihn nicht, meint Ms. Gallagher, habe jedoch gehört, dass er sich recht genau an die Tatsachen halte. So haben auch wir – soweit es unser Englisch zulässt – etwas zu berichten.

Dann wendet sich das Gespräch anderen Museen zu, die wir in der letzten Zeit besucht hatten, so der neuen Zweigstelle des Nationalmuseum hinter Castlebar. Ein ‘Museum of Irish Countrylife’ hier im Westen? Die Dame zeigt sich überrascht. Ob wir Informationen hätten, die sie weitergeben oder kopieren und auslegen könne? Wir überlassen ihr ein Faltblatt, das wir noch im Rucksack finden, und verabschieden uns. Denn schon begehrt – was für ein Gedränge heute! – das nächste Pärchen Einlass.

*  *  *

Was gibt es sonst noch von diesem Tag zu berichten? Die Liebste geht ein bisschen Shoppen und komplettiert bei Enable Ireland ihre Garderobe mit einem Wickelrock für € 6,50.

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Reiseberichte Irland: Connemara 2002
© 2004 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 22.12.2006