Skizzen & Notizen

Vom Wesen der Hauptstadt

Die Essenz Dublins

Bei einem Wettbewerb waren im vergangenen Jahr irische Schüler aufgefordert, in 224 Wörtern eine Kurzgeschichte zum Thema ‘The Essence of Dublin’ für eine Briefmarke zu verfassen, mit der Dublin als UNESCO-Literaturhauptstadt gefeiert werden sollte. Den Wettbewerb gewann der 17-jährige Eoin Moore, und die leuchtend gelbe Briefmarke mit seiner Geschichte wurde in Gegenwart von Staatspräsident Michael D. Higgins im Mai der Öffentlichkeit vorgestellt.

Ist es möglich, diese Geschichte in gleichfalls exakt 224 Wörtern ins Deutsche zu übersetzen? Ich habe es versucht und die Übersetzung in die Briefmarke gemogelt:

Dublin WritersDicke Wolken halten das Mondlicht zurück, doch die Lichter der Stadt illuminieren die Szene – und über allem markiert das helle Feuer des Leuchtturms auf seinem massivem Podest den wandernden Reisenden die alte Wikingersiedlung. Jetzt blicke ich von dort, wo einst die Nordmänner standen, zurück auf die Kais, Straßen und Alleen, in denen die Bewohner ihrem Alltag nachgehen: essen, reden und der Stadt Leben einhauchen. Ziellos durch die gepflasterten Gassen wandernd grübele ich darüber nach, was für Menschen sie vor mir passiert haben, auf Fuhrwerken oder zu Fuß, noch ehe es ein Pflaster gab, über das man laufen konnte. Ich fühle, dass mein Leben mit dem ihren irgendwie verbunden ist, dass wir alle auf eine Art Teil dieser Stadt sind, lebende Wesen in dem, was sie auf eine einmalige, atemberaubende Weise zusammenhält. Jeder Hochkönig und Gelehrte, jeder Dramatiker und Dichter, jeder Politiker und jeder Rebell, jeder Kaufmann, Student und Straßenkünstler, der je seinen Fuß in die Stadt gesetzt hat, ist oder war Teil ihrer Seele, hat zu ihrem Herzschlag beigetragen. Ich nehme die nächtlichen Straßengeräusche in mir auf, kann fühlen, wie das Lebenselixier der Stadt mich durchfließt, kann fühlen wie ich mitfließe. Wir alle, die wir durch ihre Arterien ziehen, stoßen auf die Worte, Handlungen und das Leben jener, die sie vor uns durchwanderten. Die Stadt verkörpert die Menschen, und die Menschen verkörpern die Stadt.

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© Übersetzung 2014 Jürgen Kullmann.